Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
gerann eine Dunkelheit – eine Dunkelheit aus vielen rastlosen kleinen Teilchen wie ein Fliegenschwarm –, und oben an der Spitze dieser schwärmenden, wogenden Dunkelheit begannen zwei glühende Scharlachfunken aufzuleuchten, als hätte ein plötzlicher Windstoß sie angefacht.
    Die Tänzer starrten ihn jetzt an, wenn sie vorüberschwammen, bildeten mit den Lippen wortlos seinen Namen: Simon, Simon, Simon … Auf der anderen Seite des Ringes, hinter der sich windenden Finsternis auf dem Thron, tat sich eine Lücke auf: Zwei verschränkte Hände lösten sich voneinander wie ein alter Lappen, der entzweigerissen wird.
    Als sich die Öffnung auf ihn zudrehte, streckte sich eine Hand in fischiger Wellenbewegung nach ihm aus. Sie gehörte Rachel, und als er näherkam, winkte sie ihn zu sich. Statt des üblichen misstrauischen Gesichtsausdruckes stand verzweifelte Fröhlichkeit in Rachels starren Zügen. Sie griff nach ihm; auf der anderen Seite hielt der dicke Jeremias die Lücke offen, ein stumpfes Lächeln im blassen Gesicht. »Komm her, Junge«, sagte Rachel, oder wenigstens waren es ihre Lippen, die sich bewegten; die Stimme, sanft und heiser, gehörte einem Mann. »Komm, kannst du den Platz nicht fühlen, den wir für dich freigelassen haben? Einen ganz besonderen Platz?«
    Die tastende Hand packte ihn am Kragen und begann ihn in den Kreis des Tanzes zu ziehen. Er wehrte sich, schlug nach den feuchtkalten Fingern, aber seine Arme hatten keine Kraft. Rachels und Jeremias’ Lippen öffneten sich in breitem Grinsen. Die Stimme wurde noch tiefer.
    »Junge! Hörst du mich nicht? Komm schon, Junge!«
    »Nein!« Endlich war der Aufschrei heraus, dem Gefängnis von Simons zusammengeschnürter Kehle entsprungen. »Nein! Ich will nicht. Nein!«
    »Oh, bei Frayas Strumpfbändern, Junge, wach auf! Du weckst ja alle anderen.« Wieder schüttelte ihn die Hand grob, und plötzlich schimmerte Licht.
    Simon richtete sich auf, wollte schreien und fiel mit einem Hustenanfall wieder zurück. Über ihm lehnte eine dunkle Gestalt, von einer Öllampe scharf umrissen.
    Eigentlich hat der Junge ja niemanden aufgeweckt, dachte Isgrimnur. Die anderen haben sich auch nur hin- und hergewälzt und gestöhnt, als ich hereinkam – als hätten sie alle den gleichen Alptraum. Was für eine götterverfluchte seltsame Nacht!
    Der Herzog sah zu, wie die ruhelosen Gestalten ringsum langsam wieder still wurden, und wandte seine Aufmerksamkeit dann erneut dem Jungen zu.
    Sieh an – der kleine Welpe hustet ja fürchterlich. Um die Wahrheit zu sagen, so klein ist er gar nicht mehr, nur dünn wie ein ausgehungertes Fohlen.
    Isgrimnur stellte die Laterne in eine Nische und zog das vor den Alkoven gespannte Laken zur Seite, damit er die Schultern des Jungen besser anfassen konnte. Er richtete ihn im Bett auf und gab ihm einen derben Klaps auf den Rücken. Der Junge hustete noch einmal und hörte dann auf. Isgrimnur klopfte ihn noch ein paar Mal mit der breiten, haarigen Hand und sagte dann: »Tut mir leid, Bursche, tut mir leid. Nur schön langsam.«
    Während der Junge wieder zu Atem kam, sah sich der Herzog in dem durch den Vorhang abgetrennten Alkoven um, in dem das Lattenbett stand. Hinter dem herabhängenden Tuch hörte man die murmelnden Nachtgeräusche von etwa einem Dutzend in der Nähe schlafenden Küchenjungen.
    Isgrimnur nahm die Laterne wieder in die Hand und spähte nachden sonderbaren Dingen, die an der im Schatten liegenden Wand des Alkovens hingen: ein auseinanderfallendes Vogelnest, ein seidenes Band – in dem schwachen Lampenlicht sah es grün aus –, das wahrscheinlich von der Festkleidung irgendeines Ritters stammte. Daneben, ebenfalls an in Mauerspalten getriebenen Nägeln hängend, fanden sich eine Falkenfeder, ein grobgeschnitzter hölzerner Ädonbaum und ein Bild auf einem Blatt Papier, dessen unregelmäßiger Rand erkennen ließ, dass es aus einem Buch herausgerissen worden war. Isgrimnur kniff die Augen zusammen und schien einen starr dreinblickenden Mann zu sehen, dem die Haare wild vom Kopf abstanden – oder war es ein Geweih?
    Als er wieder nach unten schaute und über das unheilige Gerümpel junger Leute vor sich hinlächelte, war der Junge zu Atem gekommen. Mit großen, unruhigen Augen sah er zu dem Herzog auf.
    Mit dieser Nase und dem – was ist es, rot? – Haarschopf sieht der Junge aus wie ein verdammter Marschvogel, dachte Isgrimnur.
    »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, erklärte der alte Herzog, »aber

Weitere Kostenlose Bücher