Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
griff nach dem dicken Strunk einer knorrigen Weinpflanze, die sich am Vorbau
entlangrankte, ihn sogar beinahe überwucherte. Yanko zog sich nach oben und suchte mit dem Fuß einen sicheren Tritt. Stück für Stück arbeitete er sich durch raschelndes Laub hinauf. Immer, wenn ein Ast knackte, zuckte er zusammen und hoffte, niemand habe ihn gehört.
Feuerschuppe blickte ihm hinterher, er wirkte irritiert. Natürlich, das passierte sicher nicht jede Nacht, dass jemand zu Nica hochkletterte, dachte Yanko. Und es war gut, dass der Drache nicht reden konnte, sonst würde er das alles morgen sicherlich Yirkhenbarg verraten, so genau, wie er alles beobachtete. Yanko schnaubte amüsiert auf und hangelte sich dann weiter am hölzernen Pfeiler entlang nach oben. Schließlich schwang er sich über die Brüstung auf den Balkon. Sofort sank er in die Knie und verharrte lautlos. Er lauschte in die Nacht, doch nichts Ungewöhnliches war zu hören, niemand schrie: »Alarm!«
Langsam richtete er sich wieder auf, klopfte leise gegen die Balkontür und wartete. Nichts geschah. Er klopfte noch einmal, etwas lauter diesmal. Drinnen rührte sich noch immer nichts. Also zog er sein neues Messer, steckte es in die Ritze zwischen Balkontür und Wand und fuhr diese von unten nach oben entlang. Manchmal waren solche Türen nur durch einen kleinen Riegel oder Haken gesichert. Und tatsächlich hatte er Glück. Mit einem kleinen Stoß konnte er den Metallhaken aus seiner Verankerung drücken. Gut, dass er gerade eben noch Feuerschuppes Schulterknubbel berührt hatte.
»Nica?« Vorsichtig zog er die Tür auf und blickte in das dunkle Zimmer. Viel konnte er nicht erkennen, doch niemand rührte sich. Langsam ging er ins Zimmer und fragte noch einmal: »Nica?«
Dem Kleid nach, das sorgfältig über eine Stuhllehne gelegt
war, war es wirklich ihr Zimmer. Zärtlich streifte er mit den Fingerspitzen über den vertrauten grünen Stoff. Er erkannte einen massigen breiten Kleiderschrank an der linken Wand, ein Schreibpult unter dem Fenster und ein Bett hinter der Zimmertür auf der anderen Seite des Raums. Auf Zehenspitzen schlich er hinüber, doch schon auf halbem Weg bemerkte er, dass das Bett verlassen war. Und nicht nur einfach verlassen, sondern ordentlich gemacht. Das hieß, Nica war nicht nur kurz aufgestanden, sondern sie war heute nie zu Bett gegangen. Zumindest nicht hier.
Was sollte er jetzt tun? Vielleicht lag sie schwer krank in einem anderen Raum des Hauses, umsorgt von Mutter und Arzt oder schmählich allein gelassen. Er konnte doch nicht einfach in einem fremden Haus nach ihr suchen.
Doch was blieb ihm anderes übrig, die Hausdiener würden ihm sicher keine Auskunft erteilen.
Mit zwei leisen Schritten war er bei der Tür und zog sie langsam auf.
»Was tust du da?«, rief plötzlich eine herrische Frauenstimme, als er die Tür vielleicht eine Handbreit geöffnet hatte.
Nicas Mutter.
Yanko zuckte zusammen und wollte schon die Flucht ergreifen, als Nicas Vater antwortete: »Ich muss wieder zur Mine.«
Der Aufschrei hatte also nicht Yanko gegolten.
»Es ist so weit.«
»Warum sie?« Die Stimme von Nicas Mutter klang nun nicht mehr herrisch, sondern verzweifelt. »Warum konnte es keine andere sein? Die fremde Jungfrau, die hättest du nehmen sollen, sie nicht einfach töten wie den Ritter und dann in den Wald schmeißen. Du hattest eine fremde Jungfrau in den Händen!«
Yankos Kiefer klappte nach unten, als er begriff, was er da gerade gehört hatte. Yirkhenbarg hatte Ivallya und Ritter Narfried getötet? Er war der Mörder? Yanko stand reglos an der Tür und versuchte, nicht zu atmen, nicht das geringste Geräusch zu machen. Wenn Yirkhenbarg ein Mörder war, wollte er sicher nicht von ihm nachts im Zimmer seiner Tochter gefunden werden, auch wenn die Tochter nicht da war. Er wollte nirgends von ihm erwischt werden.
»Eine fremde Jungfrau, die noch dazu unsere Pläne durchkreuzen wollte? Was soll denn das für ein Opfer sein?«, antwortete Yirkhenbarg kalt. »Nein, ein Opfer muss einen Verlust bedeuten. Und die eigene Tochter ist ein Verlust. Selbst wenn sie einen verrät und sich heimlich mit einem Jungen trifft, ist sie noch immer mein Fleisch und Blut, und es schmerzt, sie zu verlieren.«
»Sie trifft sich mit einem Jungen? Mit wem?« Nicas Mutter keifte entrüstet, für einen Moment war die Opferung vergessen.
»Hat sie nicht gesagt, sie...«
»Hast du auch richtig gefragt? Mit Nachdruck?«
»Natürlich. Aber sie wollte
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