Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
auch nicht vor.«
Langsam nahm Ben die Arme vor seinem Gesicht weg und rappelte sich mühsam auf. Misstrauisch musterte er dabei den Drachen. Priester Habemaas hatte stets gesagt, dass ein Drache erst befreit war, wenn ihm beide Flügel abgeschlagen worden waren. Diese angebliche Friedfertigkeit war sicher eine List.
»Warum sollte ich dir auch etwas tun?«, fuhr der Drache fort. Doch freundlich war sein Gesicht dabei nicht. »Du hast mich ja nicht mal getroffen.«
»Getroffen?« Ben stand wie angewurzelt da und starrte den Drachen an. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Was nutzte es, einem wilden Mob zu entkommen, wenn man dann einem Drachen in die Klauen rannte?
»Na ja, mit deiner Rutschpartie. Wenn du mir ins Auge schlitterst, dann tut das verdammt weh, dann hätte ich dir eine gelangt. Aber so? Das war doch keine Absicht von dir, oder?«
»Nein«, versicherte Ben rasch. Der Drache hätte ihm eine gelangt? Was sollte jetzt das schon wieder? Waren Drachen mit einem Flügel vielleicht nicht ganz klar im Kopf? Darüber schwiegen sich die alten Mythen aus.
»Du gehörst auch nicht zu diesem Ritterzeugs, das sehe ich. Also, warum sollte ich dir was tun?«
»Weil...« Ben biss sich auf die Zunge. Er hatte sagen wollen: weil Drachen Menschen fressen. Aber vielleicht war es besser, den Drachen nicht daran zu erinnern? Hätte er es vergessen, wäre das großartig! Ben verspürte nicht das geringste Bedürfnis, gefressen zu werden. »Ich weiß auch nicht, ist mir einfach so rausgerutscht.«
»Ja, schon gut. Aber wenn du schon mal da bist, kannst du
mir einen Gefallen tun.« Inzwischen sprach der Drache nicht mehr ganz so schleppend, er schien nun wach zu sein.
»Jaaaaa«, sagte Ben vorsichtig und gedehnt und warf immer wieder verstohlene Blicke auf die mächtigen Klauen des Drachen.
»Da, wo dieser Schwachkopf mir den Flügel abgehackt hat, da steckt ein Knochensplitter in der Wunde. Ich krieg das widerspenstige Ding mit der Zunge einfach nicht weggeleckt. Mit der Klaue komme ich nicht hin, meine Gelenke sind heute irgendwie so steif, muss am Regen liegen. Könntest du vielleicht?«
Ben war nicht sicher, ob das eine List war, aber eigentlich hatte der Drache solche Tricksereien nicht nötig. Wenn er Ben fressen wollte, könnte er das leicht tun. Ben war zu schwach, um sich zu wehren, und zu langsam, um wegzulaufen. Also nickte er und trat an die Flanke des Drachen.
Die Schuppen waren von einem tiefen, wunderschönen Blau, fast wie der Himmel am Abend eines klaren Sommertags, und dabei zugleich so reich an Konturen wie Granit oder ein vielfältig gemaserter Baum. Die Drachenhaut schimmerte wie die Rinde einer alten, großen Himmelsbuche, sie war wunderschön. Doch die rechte Flanke war übersät mit dunklen Blutflecken.
Ben trat an den Flügelansatz heran und entdeckte tatsächlich einen Knochensplitter, der sich tief ins Fleisch gebohrt hatte.
»Vorsicht«, sagte er zu dem Drachen. »Das kann jetzt wehtun.«
Beruhigend legte er ihm die Hand auf die Schuppen und zog Yankos Dolch. Er spürte überhaupt keine Furcht mehr, er hatte einfach nur das Gefühl, dass es richtig war, dem Drachen
zu helfen. Diesem Gefühl folgte er, und es verriet ihm auch, was er tun musste. Mit ruhiger Hand und der Dolchspitze löste er den Knochensplitter, der sich irgendwie im Flügelgelenk verhakt hatte, und zog ihn mit der Linken aus der offenen Wunde. Als er dabei den Schulterknubbel berührte, spürte er wieder das Glück pulsieren, spürte, wie es zu ihm floss, und lächelte. Jetzt würde der Drache ihn sicher nicht mehr verspeisen. Der Splitter war beinahe so lang wie seine ganze Hand. Er zeigte ihn dem Drachen.
»Danke, Junge.« Neugierig musterte ihn der Drache. Sein Blick hatte sich verändert, Ben sah nun weniger Zorn darin lodern.
»Darf ich den Splitter behalten?«
»Warum?«
»Na ja, ich mach mir vielleicht eine Kette daraus. Wenn Schulterknubbel Glück bringen, dann so ein Splitter sicher auch.«
»Wer bringt Glück?«, fragte der Drache verwirrt.
»Ähm. Nicht so wichtig.« Ben war nicht sicher, wie er mit dem Drachen reden sollte und was er alles sagen durfte. Wenn der hier mit seinem einen Flügel noch wild und fluchbeladen war, wäre er sicher nicht erfreut darüber, ein Loblied auf die Schulterknubbel und abgehackte Flügel zu hören.
»Na gut«, brummte der Drache. »Wie heißt du eigentlich?«
»Ben.«
»Dann danke, Ben. Mein Name ist Aiphyron.«
»Sehr erfreut«, erwiderte Ben, weil er nicht wusste,
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