Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
wie viel Wert Drachen auf Höflichkeit legen. In den alten Sagen wurde darüber nichts berichtet, doch sprachen die Ritter immer sehr zuvorkommend mit ihnen. Er steckte den Knochensplitter
weg, und dabei fiel sein Blick wieder auf den einsamen Pfahl. Am Boden vor ihm lagen die ausgefaserten Überreste von einem zerfetzten Seil. Er dachte an die Jungfrau, die hier angebunden gewesen sein musste, und plötzlich hatte er wieder Angst. Dieser Drache war immerhin riesig, sicher zwölf oder gar fünfzehn Schritt lang, und hatte lodernde Augen, so groß wie Bens Hände. Ben musterte die spitzen Zähne eingehend, um zwischen ihnen vielleicht Reste der Jungfrau oder ihrer Kleidung zu entdecken, aber die hinteren im Rachen konnte er nicht erkennen.
»Sag mal, hattest du schon öfter mit Drachen zu tun?«, fragte Aiphyron.
»Nein. Das heißt: ja. Also einmal, oder so«, stotterte Ben und trat ein paar Schritte zurück. Er versuchte, es nicht wie eine Flucht aussehen zu lassen. Dabei stolperte er jedoch über den am Boden liegenden Ritter. Er fiel auf den Hosenboden und war also wieder da angekommen, wo er vor kurzem gewesen war: Er lag auf dem nassen Boden vor einem nur zur Hälfte befreiten Drachen.
Aiphyron knurrte, und seine Klaue schoss schnell und zornig nach vorn. Sie schnappte zu und umkrallte den toten Ritter. Aiphyron schüttelte den Toten, spuckte ihn an und hielt ihn sich direkt vors Maul. »Du verdreckter Erdkriecher! Bodenlutscher! Warum hast du mir meinen Flügel genommen? Warum? Ich hoffe, deine Seele brennt ewig im Nichts!« Knirschend drückte er ihn zusammen und schleuderte ihn über die Schulter davon. Weit entfernt krachte der Ritter in die Wipfel und polterte scheppernd von Ast zu Ast und schließlich zu Boden.
Zitternd gaffte Ben den wütenden Drachen an. Da war Samoths Fluch deutlich zu sehen gewesen, er steckte noch immer in ihm!
Aiphyron wandte sich wieder Ben zu, schnaubte einmal und brummte: »Widerliches Pack! Man hat nur Ärger mit ihnen. Selbst tot gehen sie einem noch im Weg um.« Er streckte Ben die Klaue entgegen und sagte freundlich: »Komm hoch.«
Ben hielt sich oberhalb der kleinsten Kralle fest und wurde vom Drachen wieder auf die Beine gezogen. Vielleicht sollte er erzählen, dass er wegen Mordes an einem Drachenritter gesucht wurde? Wenn Aiphyron diese nicht leiden konnte, dann konnte er damit womöglich Eindruck schinden - zumindest so lange, bis er zugeben musste, dass er eigentlich unschuldig war.
Nein, besser, er sagte überhaupt nichts.
»Du hattest also einmal mit einem Drachen zu tun?«
Und weil Ben überhaupt nicht wusste, was er erzählen sollte, was er überhaupt sagen durfte, ohne Aiphyron zu verärgern - er wollte ganz sicher nicht zerquetscht und dreißig Schritt durch die Luft geschleudert werden -, stellte er lieber sofort eine Gegenfrage: »Was ist denn an den Rittern so schlimm?«
»Was an denen schlimm ist? Sag mal, weißt du, was die tun?« Aiphyron schnaubte kleine Rauchwolken aus den Nüstern, die Augen schienen plötzlich zu brennen. »Die sind vollkommen irre. Das ist jetzt der dritte, den ich getroffen habe, und jeder von ihnen hatte irgendwo in der Wildnis eine Jungfrau an einen Pfahl gebunden. Jedes Mal bin ich natürlich sofort runtergerauscht, im Sturzflug, damit ich nicht zu spät komme. Was diese Ritter auch vorhaben mögen, es kann nichts Gutes sein, sonst müssten sie sie ja nicht fesseln. Und siehe da, kaum will ich die Jungfrau vom Pfahl losbinden, ihre Fesseln mit meiner Klaue durchtrennen, stürmt so ein Ritter aus dem Gebüsch und greift mich an. Ohne Vorwarnung, immer von
hinten. Das habe ich gegen die Kerle. Es sind Feiglinge. Entweder gegen Frauen oder von hinten, das sollte doch für jeden Ritter eine Schande sein!«
Ben starrte den Drachen an. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Was ist? Warum glotzt du so? Findest du das etwa gut? Fesselst du üblicherweise auch irgendwelche Jungfrauen irgendwo im Wald?«
»Nein, nein«, versicherte Ben schnell. »Du willst die Jungfrauen also retten?«
»Was denn sonst? Es ist schrecklich, gefangen zu sein. Das Schrecklichste überhaupt!«
Ben nickte und starrte den Drachen weiter an. Konnte das stimmen?
»Also, die Ritter sagen, also, das habe ich nur gehört, weil, ich kenne ja keinen, also, die sagen, Drachen würden Jungfrauen fressen.«
»Was? Wir sollen sie fressen? Es sind doch die Ritter, die die Jungfrauen an den Pfahl binden, nicht wir!«
Ben nickte langsam. Das klang völlig
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