Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
Nachbarin Mehl für das Abendessen leihen ging, steckte dafür das größte Küchenmesser ein, oft schliff sie es eigens dafür. Die Büttel erhielten Unterstützung von Yirkhenbarg, der die kräftigsten seiner Arbeiter als Hilfsbüttel zur Verfügung stellte; solange in der Mine noch nicht geschürft wurde, sei dies doch selbstverständlich, sagte er, die Männer hätten ohnehin nicht viel zu tun. Und als neue Mitglieder der Stadtgemeinschaft stünden er und seine Leute ja in der Pflicht, ihre Verbundenheit zu Trollfurt unter Beweis zu stellen.
Yirkhenbarg selbst ritt auf seinem Drachen in die Berge, um Ben zu jagen, und seine Beliebtheit bei den eingesessenen Bürgern stieg weiter - schneller, als das für einen frisch Hergezogenen möglich erschien.
Yankos Beliebtheit dagegen sank rapide, da er sich immer noch weigerte, an Bens Schuld zu glauben. Kaum noch jemand außer Byasso wollte mit ihm sprechen, es sei denn, um ihm zu sagen, dass er krank im Kopf sei und sich gefälligst wieder einfügen solle. Doch sein Trotz war schon immer ausgeprägter gewesen als seine Fügsamkeit.
Byasso sprach meist dann mit ihm, wenn sie allein waren und niemand es sehen konnte. Als Sohn des Bürgermeisters trug er auch Verantwortung für den Ruf seines Vaters, und Yanko konnte ihm ja nicht ständig sagen, er sei zu feige, mit ihm zu reden, um so ein Gespräch zu erzwingen. Auch wenn es stimmte.
Hellwahs Tempel war in diesen Tagen oft besucht, und auch der Tempel der anderen Götter. Dieser war ein verschachtelter, verwinkelter Bau aus unterschiedlichsten Steinen, in dem zahlreiche Götter einen Schrein oder Altar hatten, der zu ihnen passte. Ein silberner Halbmond hing hoch im schmalen Alkoven, der Aphra geweiht war, und ein im Boden versenktes Becken mit Flusswasser harrte der Männer und Frauen, die zum Dherrn sprechen wollten.
Selbst Samoth war im hintersten Winkel eine verhangene schwarze Ecke geweiht, doch hier hatte Yanko bislang erst einmal eine Magd knien sehen. Eine verzweifelte, heulende Frau, die ihren Herrn verflucht hatte, weil dieser sie in Schande vor die Tür gesetzt hatte. Mit schriller Stimme hatte sie alles Unheil in Samoths Namen auf ihn herabbeschworen, hatte sich flehend, keifend und schluchzend auf dem kalten Steinboden
gewunden, bis sie von mehreren Bürgern aus dem Tempel gezerrt worden war. Halb nackt war sie mit frisch geschnittenen Weidenruten aus der Stadt gejagt worden, Kinder hatten sie bis weit vor die Tore verfolgt, denn wann durften sie schon einmal ungestraft einen Erwachsenen peitschen?
Wer sonst einen anderen verfluchen wollte, tat dies meist leise und im Schutz der Nacht, um nicht gesehen zu werden. Doch jetzt erblickte Yanko jeden Tag jemanden, der mit grimmiger Miene vor Samoths schwerem schwarzem Vorhang kniete und Ben alles Schlechte, Krankheiten, Verletzungen und Unheil an den Hals wünschte. Yanko bat Hellwah, all diese Flüche von seinem Freund abzuwenden.
Am dritten Tag nach dem Mord stand nach der Schule plötzlich Nica vor Yanko, die bislang kaum je mit ihm geredet hatte, und raunte ihm zu: »Komm in einer Stunde zu den Schleierfällen. Bitte.«
Yanko war so überrumpelt, dass er nichts zu erwidern wusste. Er starrte sie einfach nur an.
Ihre großen Augen blickten ihn flehend an.
»Ach, du bist so ein Idiot, Yanko«, rief sie dann laut aus, damit die Umstehenden es hören konnten. Dabei sah sie ihn jedoch noch einmal bittend an. Dann warf sie die Hände in die Luft und lief kopfschüttelnd zu ihren Freundinnen, mit denen sie die Straße hinablief, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Yanko sah ihnen nach, wie sie tuschelten und die Köpfe schüttelten. Dann rempelte ihn jemand von hinten gegen die Schulter und motzte: »Geh doch aus dem Weg, moderndes Rattenvieh! Oder willst du hier für deinen sauberen Freund Ben und seine Mörderbande herumspionieren? Vaterstadtsverräter, wie?«
Doch auch jetzt fiel ihm nichts Schlagfertiges ein, und so
wurde er herumgeschubst, ohne vorher in den Genuss gekommen zu sein, jemanden zu beleidigen. Das gehörte seit drei Tagen zum Schulschluss dazu: Wer Tadel oder Züchtigung durch den Schulmeister stumm hatte ertragen müssen, der konnte seinen Ärger an Yanko auslassen, ohne von anderen daran gehindert zu werden, auch nicht von Yankos alten Freunden. Schließlich war in ihren Augen ja auch er der Verräter. Und da meist mehr als ein Junge über den Schultag hinweg getadelt und gezüchtigt wurde, sah sich Yanko jedes Mal einer Überzahl
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