Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
den Frosch, schüttelte den Kopf über diesen selten dämlichen Zufall mit der übereinstimmenden Höhle und alberte schließlich mit Aiphyron herum: »Was hättest du denn auf meinen Grabstein geschrieben, wenn du einen Augenblick später gekommen wärst? Hier ruht Ben. Er sollte ein großer Mann werden, doch dann
fraß ihn ein Frosch? Das wäre sicher sehr ehrfurchtgebietend, alle Welt würde herbeipilgern und über diese große Tragödie trauern.«
»Auf den Grabstein schreiben, ja. Davon habe ich gehört, ich weiß nur nicht, weshalb ihr so etwas tut«, sagte Aiphyron mit einem Flügelzucken.
»Das macht man, um sich an die Toten zu erinnern«, erklärte Ben knapp. Ihm fiel es immer schwer, dem Drachen solche Selbstverständlichkeiten nahe zu bringen.
»Dafür nehmt ihr Steine? Interessant«, brummte Aiphyron. »Wir erinnern uns mit unserem Gedächtnis und reden über sie.«
Ben starrte Aiphyron an und wusste einen Moment nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Aber meinetwegen schreibe ich auf deinen Grabstein«, stimmte Aiphyron doch noch zu. »Aber was viel wichtiger ist: Lieder würden gesungen werden an allen Höfen und in allen Hinterhöfen.«
»So ist es!«, rief Ben, und dann dichteten sie gemeinsam ein paar holprige Verse:
Einst lebte Ben, ein großer Mann,
Der konnte, was sonst keiner kann,
Er flüstert’ Drachen ruckzuck heil,
Doch für den Frosch hätt er ein Beil
wohl besser bei sich sollen tragen,
denn ohne Waff’, was soll ich sagen,
Stirbt wehrlos er im Untiermagen.
Lachend schafften sie den Frosch hinaus und ließen ihn den Sippa hinuntertreiben, essen wollten sie ihn nicht. Ben warf
ihm noch ein paar Steine hinterher und grunzte zufrieden, wenn er traf. Sie fingen sich ein paar Fische, sammelten Früchte und Beeren und aßen in der tief stehenden Sonne ein Stück flussabwärts, wo das Tosen des herabstürzenden Sippa nicht so laut war. Später wollten sie die Höhle erkunden.
Und dann geschah es schon wieder: Aiphyron beschimpfte den ersten der gefangenen Fische als Feuerfisch, knurrte ihn an, wollte ein Geständnis, und als er wieder keines bekam, ließ er ihn schließlich frei.
»He!«, rief Ben. »Was soll das? Das war unser Abendessen!«
»Ich esse keinen Feuerfisch.«
»Aber... ich dachte, es wäre keiner? Du hast ihn doch freigelassen?«
Der Drache starrte ihn an und brummte: »Schon. Aber man kann trotzdem nie wissen. Vielleicht habe ich mich ja geirrt.« Dann fing er ihnen drei dicke Fische mit silbern schimmernden Schuppen, von denen er zwei sofort selbst verputzte.
Während Ben den dritten Fisch ausnahm, um ihn mit Aiphyron zu teilen, schob er sich immer wieder einen Brocken des glasigen Fleischs in den Mund und beobachtete den Drachen. Was hatte er nur immer mit diesen Feuerwesen? Konnte er ihn darauf ansprechen, ohne dass es wieder losging? Ben war einfach zu neugierig, um es zu lassen.
»Sag mal, Aiphyron«, fragte er also wie beiläufig. »Seit wann bist du hinter diesen Feuerwesen eigentlich her?«
»Seit meiner Geburt.«
»Und deine Eltern? Haben die da nie etwas gesagt?«
»Eltern? Welche Eltern? Drachen haben keine Eltern. Ich habe dir doch gesagt, dass es bei uns keine Generationen gibt.«
Ben hatte während der letzten zwei Jahre zwar auch allein gelebt, und wenn seine Mutter mal wieder besoffen herumgekeift und seinen Vater, an den er sich nicht erinnerte, wüst beschimpft hatte, dann hatte er sich oft genug gewünscht, keine Eltern zu haben, nie welche gehabt zu haben, ein Waise von Geburt an zu sein. Aber das war nur ein Wunsch gewesen, und ein unerfüllbarer dazu. Jeder hatte doch Eltern, jeder Mensch, jeder Troll, jedes Tier, jedes Wesen, nur bei Göttern war er sich nicht sicher. Aber Götter waren schließlich Götter. »Ja, aber dich muss doch eine Mutter geboren haben. Oder nicht?«
»Nein.« Aiphyron starrte ins Wasser.
»Aber woher kommst du dann?«
Der Drache brummte leise vor sich hin, den Kopf hob er nicht. Ben ließ ihn in Ruhe und wartete. Als er schon ungeduldig nachfragen wollte, antwortete Aiphyron doch noch. Seine Stimme klang zugleich rauer und sanfter als sonst. »Ich weiß nicht, woher ich komme. Ich erinnere mich an furchtbare Schmerzen, an lodernde Hitze, an das Gefühl von Nadelstichen bis in mein Innerstes. Das war, bevor ich mich bewegen konnte. Bevor ich etwas sehen konnte. Bevor ich richtig geboren war. Als ich schließlich die Augen öffnete, lag ich auf einer Ebene aus Asche. Verkohlte Überreste von nicht mehr
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