Der dreizehnte Apostel
Wort Pharisaios, das ein Mitglied der Gruppe der Pharisäer bezeichnet. Die Apostelgeschichte selbst sagt in 24,5, daß die Nazaräer eine Sekte sind …« Der Rabbi blickte in die Bibel, die er während des Essens vorbereitet hatte. »Paulus wird als ein Hauptführer dieser Sekte bezeichnet. Und kann einer von Ihnen, die hier versammelt sind, eine einzige alte Bewegung nennen, die ihren Namen nach der Heimatstadt ihres Gründers hat? Natürlich können Sie nicht. Es ist eine Tatsache, der Christen ungern ins Gesicht sehen, aber Jesus und Paulus waren Mitglieder einer historischen jüdischen Bewegung.«
»Eine Frage, Rabbi«, bat Pater Basilios. »Wenn Jesus kein Nazarener im Sinne von ›aus Nazareth stammend‹, sondern ein Nazaräer war, woher kam er dann?«
»Aus Bethlehem. Jesus wäre niemals in dem Maße akzeptiert worden, wie er es wurde, wenn er kein Abkömmling des Hauses David gewesen wäre. Erinnern Sie sich, die Überlieferung sagt, Elisabeth habe in Ein-Kerim gelebt, etwas außerhalb von Bethlehem, wo Ihre orthodoxen Brüder, Pater, ebenso wie die Katholiken Heiligtümer haben, die an die Heimsuchung Maria erinnern. Das macht Marias Besuch glaubwürdig. Glaubt irgend jemand hier wirklich, die schwangere Maria habe einen gefahrvollen Hundert-Meilen-Ritt auf einem Esel von Nazareth nach Ein-Kerim unternommen, durch die Wüsten von Samaria, einer verhassten Provinz, um ihre Cousine zu besuchen, wie Lukas uns glauben machen möchte? Ein-Kerim und Bethlehem liegen keine zehn Meilen auseinander, das ist glaubhafter.«
»Und Sie meinen«, fragte Dr. Gribbles, der sich in rasanter Geschwindi gkeit durch einen Berg von Crac kers futterte und voller Krümel war, »daß Jesus, Paulus, Johannes und Jakobus der Bruder alle aus einer gescheiterten puristischen Sekte namens Nazaräer kamen?«
»Nazir ist hebräisch und bedeutet ›abgesondert, besonders, geweiht‹. Die Nasiräer – oder häufiger: Nazaräer – hielten sich radikal an die Regeln der Schrift und waren Asketen. Außerdem Schloss die Bewegung
– ebenso wie die geistlichen Ämter bei Jesus und Paulus – Frauen mit ein. Es steht alles in der Thora, im Buch Numeri, 6. Ein Nazaräer durfte keinen Wein trinken und keine Leichen ansehen – selbst wenn Mutter oder Vater starben, durfte er nicht in die Nähe des Toten. Erinnern Sie sich an die Worte Jesu, wer ihm folge, müsse Mutter und Vater aufgeben? Als seine Mutter Maria ihn sehen will, fährt er sie an: Wer ist meine Mutter? Frau, was hast du mit mir zu schaffen?
Das erklärt die familienfeindlichen Elemente bei Jesus. Und dann das Haar. Ein Nazaräer, der einmal geweiht und geschoren war, musste sein Haar fortan wachsen lassen, so wie es für Johannes den Täufer beschrieben ist. Das Buch der Richter berichtet in 13,7, wie Samson zum Nazaräer geweiht wird; als sein Haar danach wieder geschoren wird, lässt Gott es natürlich zu, daß er in die Hände seiner Feinde fällt.«
»Aber«, wandte Dr. Whitestone ein, »wie erklären Sie die Auferweckung des Lazarus durch Jesus, wenn er doch nicht in die Nähe einer Leiche kommen durfte?«
»Weder bei Matthäus noch Markus, also in den frühesten Evangelien, wird dieses Wunder erwähnt. Ich finde es seltsam, daß Jesus einen Toten erweckt und Markus einen solchen Knüller nicht nennt. Diese Geschichte wurde erst zu Lukas’ Zeit aufgenommen.«
Der Rabbi lächelte, während er in der Apostelgeschichte blätterte. »Wollen Sie weitere Beweise, daß Paulus ein gläubiger Nazaräer war? Dann nehmen Sie die Apostelgeschichte, die randvoll ist mit für euch Christen lästigen Beweisen.« Der Rabbi setzte seine Lesebrille auf: »Paulus sagt in der Apostelgeschichte, 26,5: Sie kennen mich von früher her und wissen, wenn sie der Wahrheit Zeugnis geben wollen, daß ich nach der strengsten Richtung unserer Religion als Pharisäer gelebt habe. Klingt für mich wie ein braver jüdischer Junge. Dann, wie es die Thora anordnet, vollzieht Paulus am Ende seiner Weihe die nazaräischen Riten, wie sie im Buch Numeri dargestellt sind. Schwester, würden Sie den Passus 21,23 für mich lesen?«
Schwester Marie-Berthe begann: »Die Ältesten der Jerusalemer Christen sagen zu Paulus, ich zitiere: Schließ dich ihnen an, weihe dich mit ihnen und trage für sie die Kosten, damit sie sich das Haupthaar scheren lassen können. Dann werden alle einsehen, daß an den Gerüchten, die über dich verbreitet sind, nichts ist, daß du vielmehr das Gesetz treu
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