Der dreizehnte Apostel
für einen Neuerer und Karrieristen hielten – den Paulus, in anderen Worten, den die meisten modernen Christen anerkennen. Ich behaupte, Ladies und Gentlemen, daß Sie in den letzten 1800 Jahren der falschen Richtung gefolgt sind, daß Sie sich an verfälschte Evangelien und unechte Paulusbriefe gehalten haben und daß es die Ebioniten der frühen Jahrhunderte waren, die der Tradition des wahren Jesus, eines Rabbi und aufrührerischen Pharisäers, am ehesten gefolgt sind. Jeder von Ihnen, ausgenommen Dr. Abdullah … ist ein Ketzer!«
Während alle aufschrien, fuhr der Rabbi provozierend fort: »Und für die Juden war seither nichts mehr wie zuvor! Lieber Gott im Himmel, wenn du dein Auserwähltes Volk retten willst, dann bewahre uns vor den Epileptikern! Paulus wurde auf der Straße geblendet, und wir haben die Christen bekommen; Mohammed stürzte in einem Anfall zu Boden, und wir haben die Mohammedaner bekommen. Hab Erbarmen!« Dr. Abdullah übertönte den Lärm: »Es muss Ihnen doch klar sein, daß es beleidigend ist, Mohammeds Vision einem epileptischen Anfall zuzuschreiben.«
»Dr. Abdullah«, schaltete Vikar Dr. Whitestone sich ein, »wer kann sagen, ob Epilepsie nicht Empfänglichkeit für die höchsten spirituellen Gaben bedeutet? Könnte Epilepsie nicht Gottes Weg sein, einen Propheten zu schaffen?«
»Ich entschuldige mich für jede Kränkung, mein Freund«, erklärte der Rabbi, bevor die Diskussion auf Nebengeleise geraten konnte. Der Streit um Paulus’ Rolle als Verteidiger des jüdischen Glaubens tobte weiter. Lucy entschuldigte sich kurz, um sich in der kleinen Damentoilette Wasser ins Gesicht zu spritzen. Nie wieder werde ich so viel trinken, versprach sie sich. Und ich sollte wirklich versuchen, irgendwo in dieser Diskussion ein Argument anzubringen. Das würde Dr. O’Hanrahan beeindrucken, und vielleicht wird er mich dann nicht mehr für eine dumme Pute halten. Natürlich besteht dabei das Risiko, daß ich etwas Dummes sage und damit beweise, daß ich tatsächlich eine dumme Pute bin.
Sie ging in die Bibliothek zurück und glitt möglichst unauffällig auf ihren Stuhl.
»Also ich für mein en Teil«, erklärte Schwester Ma rie-Berthe eben, »könnte es gut verkraften, ein paar von den unechten Büchern zu verlieren, die man Paulus zuschreibt.«
Die Männer rutschten auf den Stühlen herum und warteten darauf, daß sie die Kampflinie festlegte.
»Ich liebe Paulus«, sagte die Schwester. »Rabbi Hersch verteidigt den Paulus der Apostelgeschichte, aber ich will den Paulus der Briefe verteidigen. Den richtigen Paulus. Nicht den Chauvinisten in diesen deutero-paulinischen Briefen, obwohl ich zugebe, daß die Einfügungen von einem Mitglied der paulinischen Schule stammen. Ich denke, wir sollten erst einmal sehen, ob wir uns darauf einigen können, daß der richtige Paulus der Paulus des Römerbriefes ist.« Die Tischrunde stimmte ohne Umschweife zu.
»Gut«, meinte Schwester Marie-Berthe und blätterte in ihrer Bibel, der neuen, überarbeiteten Standardausgabe, aus der man die sexistischen Stellen getilgt hatte. »Und sind wir uns einig, daß der Timotheusbrief nicht der richtige Paulus ist? Sicher wird heutzutage kein ernsthafter Gelehrter Paulus als den Verfasser dieser Schrift verteidigen.« Der Archimandrit erwiderte ruhig: »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie oder unser geschätzter jüdischer Freund mich dazu bewegen können zuzugeben, daß irgendein kanonischer Brief, selbst ein Pastoralbrief, keine inspirierte Schrift ist, Schwester.«
Die Angesprochene hielt an ihrem Argument fest: »Pater, denken Sie als Gelehrter, daß der Autor des Timotheusbriefes und der Autor des Römerbriefes ein und dieselbe Person ist?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Der richtige Paulus«, fuhr die Schwester fort und sah in ihre Bibel, »schrieb im Römerbrief 16,1 und 2: Ich empfehle euch aber unsere Schwester Phöbe, die im Dienst der Gemeinde Kenchreä steht, daß ihr sie im Herrn aufnehmt, wie es sich für Heilige geziemt … Ein klarer
Widerspruch zum 1. Timotheusbrief 2,11 und 12: Die Frau soll sich stillschweigend in aller Unterordnung belehren lassen. Zu lehren gestatte ich der Frau nicht. Sie soll auch nicht über den Mann herrschen wollen, sondern sich still verhalten. Eine Diakonin zu sein – das bedeutet im Dienst der Gemeinde Kenchreä – ist also, im Widerspruch zu dem früheren Brief, verboten. Sie sehen, daß die verknöcherten alten Junggesellenpater vor den befreienden Implikationen
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