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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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der letzten zehn Minuten über Shamir und die Likud-Regierung geschimpft hatte, die mit dem rechten religiösen Flügel liebäugelte. »Wir sprechen über eine Regierung, die mit Angehörigen der jüdischen luba-vitchers in Brooklyn konform gehen muss , damit die Schlaglöcher auf unseren Highways repariert werden.«
    Schwester Marie-Berthe, deren kanadischer Akzent infolge des Alkoholgenusses breiter wurde, nahm kein Blatt vor den Mund: »Ich wünschte, man würde die Grabeskirche niederreißen«, begann sie, entschlossen, den Archimandriten auf die Palme zu bringen. »Es ist ein geschmackloser Steinhaufen; und die Christen tun die ganze Zeit nichts anderes, als sich zu streiten, welcher staubige Winkel wem gehört. Ihre griechischen Freunde, Pater Basilios, machen die Sache auch nicht besser. Ich glaube, al-Hakim hatte die richtige Auffassung«, fügte sie zu Dr. Abdullahs Belustigung noch hinzu.
    »Dr. O’Hanrahan«, murmelte Lucy, »wer war al-Hakim?«
    »Ich bin nicht hier, um Ihnen alles zu erklären, was Sie nicht wissen. Schlagen Sie es nach!«
    Nun folgte Wildbret mit Preiselbeeren und einer leichten Soße, zusammen mit einheimischem englischem Gemüse, Kohlrübchen, Rosenkohl, gebratenem Pastinak. Diener reichten Silbertabletts herum, so daß jeder sich selbst auflegen konnte. Dazu gab es einen starken Rhonewein, der nach dem Aroma des Eichen fasses schmeckte.
    »Was ist das?« Lucy stupste Dr. O’Hanrahan und zeigte ihm ein Stück Kohlrübchen auf ihrer Gabel.
    »Wenn Sie al-Hakim nachgeschlagen haben, können Sie Gemüse nachschlagen. Steht unter G.«
    Der »Pudding-Gang« folgte. Lucy war erstaunt, als anstelle dessen, was sich Amerikaner unter Pudding vorstellen, ein üppiger Schokoladenkuchen aufgetragen wurde. Danach wurden Käse und Cracker – »Biskuits« – gereicht und Bibeln in vielen Versionen und Sprachen für die bevorstehende Diskussion verteilt. Schließlich kamen die Diener ein letztes Mal und brachten Karaffen mit Portwein, Madeira, Sherry, Sauternes und Beaumes de Venise. Lucy spürte, daß ihr Blick bereits verschwommen umherschweifte und von den Gegenständen abglitt, und ihr wurde be wußt , daß sie zuviel getrunken hatte. Sie blieb nun bei Wasser, denn sie wollte um keinen Preis zeigen, daß sie nicht mehr nüchtern war. »Also los«, sagte der Archimandrit und klopfte mit einem Hämmerchen auf den Tisch, bereit, mit der Diskussion zu beginnen. »Wie Sie alle wissen, ist heute Abend der Apostel Paulus unser Thema. Hoffen wir, daß er eine ebenso erbitterte Debatte hervorruft wie unser Thema im letzten Jahr, schiitischer versus sunnitischer Islam.« Alle lachten bei der Erinnerung an den hitzigen Abend – hitzig, obwohl in der Mehrzahl unvoreingenommene Christen argumentierten. Der Archimandrit mahnte zu Toleranz, Aufgeschlossenheit, guter Laune und Ehrfurcht vor den Schriften ebenso wie vor dem Glauben der übrigen Mitglieder im Akoluthen-Club. Lucy nahm an, daß es sich um die traditionelle Darlegung der Grundregeln handelte. Dann folgte ein Toast. Lucy prostete mit ihrem Wasserglas, und Dr. O’Hanrahan sah sie spöttisch von der Seite an. »Sie sind auf jeden Fall keiner von meinen Aposteln.«
    »Beginnen wir mit Rabbi Hersch«, verkündete Pater Basilios. »Ich danke Ihnen, Archimandrit«, erwiderte der Rabbi und lehnte sich bequem zurück. »Ich danke all meinen Mit-Akoluthen, daß ich die Debatte eröffnen darf. Vielleicht ist es das letzte Wort, das Sie mir erteilen. Zuerst einmal«, erklärte er, »wird der Apostel Paulus von Christen nur ausnehmend schlecht verstanden, weil sie eine schriftliche Überlieferung von mehreren Aposteln Paulus haben. Sie haben Paulus, den jüdischen Reformer, von dem wir in der neutestamentlichen Apostelgeschichte lesen. Dann gibt es den Paulus der Briefe, einen klugen, kosmopolitischen Mann, früheren Pharisäer und römischen Bürger, der eine neue Religion erfindet. Und schließlich gibt es den Pseudo-Paulus der Timotheusbriefe und des Titusbriefs, Fälschungen, um die liberaleren Entwicklungen der Kirche zu hemmen, die der frühere Mann, der sich Paulus nannte, eingeleitet hatte. Sehr antisemitisch, der letztgenannte Bursche.«
    »Und frauenfeindlich«, setzte die Schwester hinzu. »Sie sehen also, daß Paulus, so wie Jesus und Johannes der Täufer, ein Nazaräer war. Nein, nicht jemand aus Nazareth – das ist ein absichtliches Missverständnis aus dem Griechischen. Nazar ios nennt Paulus sich selbst, die gleiche Formbildung wie das

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