Der dreizehnte Apostel
seine zweite Frau, deine Mutter, die Vergnügungen der Großstadt nicht entbehren mochte. Indessen bat ich nun beide schriftlich, angesichts der drohenden Belagerung die Stadt zu verlassen und zu uns nach Pella zu kommen, wo ihre Sicherheit einigermaßen gewährleistet wäre. Doch meinten sie anscheinend, sich unbesorgt auf deinen Schutz verlassen zu können, da du ja bei den Römern lieb Kind warst. Als wir dann von den Vorgängen in der Stadt während der Belagerung hörten, schwand meine Hoffnung, unseren Vater, der ja damals schon in der achten Dekade seines Lebens stand [über siebzig Jahre alt war], jemals lebend wiederzusehen.
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Dennoch machte ich mich, als wir erfuhren, daß Jerusalem gefallen sei [im September 70 n. Chr.], unverzüglich aus Pella auf den Weg dorthin, um in Erfahrung zu bringen, was aus ihm geworden sei, und natürlich auch um dich, meinen Bruder, wiederzusehen. Teilweise trieb mich, wie ich nicht verhehlen will, überdies die Neugier (da ich schließlich einen Namen als Historiker zu verlieren hatte).
Ich hatte mich geweigert, den Berichten von der gänzlichen Zerstörung der Stadt Glauben zu schenken, diese Berichte für Ausgeburten verängstigter Phantasie gehalten.
Wer konnte eine so große und wohlbefestigte Stadt dem Erdboden gleichmachen? Nun, als ich hinkam, fand ich, daß genau das allerdings möglich gewesen und die gänzliche Zerstörung Jerusalems leider Tatsache war. Nun glaubte ich auch, was wir von den Assyrern lesen, daß die-se nämlich in den Städten, die sie eroberten, keinen Stein auf dem anderen ließen.
Reihen von Kreuzen und Galgen verstellten alle Aussichten. Wo der Wind vom Ölberg wehte, war die Luft nicht zu atmen, und die Nächte erfüllte das Geheul und Gebell der Hyänen und Schakale, die sich an den Leichen der Gerichteten gütlich taten. Am Fuße der Schädelstätte hatte sich ein Haufen junger Schriftgelehrter und Rabbiner versammelt, die in Sack und Asche gingen und sich geißelten und unaufhörlich die Römer verfluchten und sich selbst, wobei sie einen solchen Heidenlärm machten, daß die Römer wiederholt erschienen, um mit der blanken Waffe Ruhe zu stiften. Diesen schreienden Rabbis fehlte es offenbar an der gebotenen demütigen Ergebung in ihr Schicksal, und so sah man davon ab, sie zum Triumph des Titus nach Rom zu verfrachten. (Wo sie in Ketten vor ihm hergezogen wären, während der Pöbel am Straßenrand sie mit Unrat beworfen hätte, wie du weißt, wenn du auch diese unappetitlichen Aspekte der Zeremonie in deiner Schilderung nicht hervorgehoben hast, wohl weil du meintest, dergleichen könnte deinen römischen Patronen peinlich sein).
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Diese klagenden Schriftgelehrten also wurden nicht nach Rom bemüht. Im blutbesudelten Bett des Kidron begegnete mir das fürchterliche Gesicht des Sohns des Rabbi Jochanan bar-Jehoschua (der nicht mit den anderen nach Jawneh gegangen war), er hatte sich mit eigenen Händen die Haare ausgerauft. Gleich werde auf dem Ölberg der Messias erscheinen, sagte er, an der Spitze der himmlischen Heerscharen, es werde eine Posaune erschallen, worauf die Erde die Römer verschlingen werde, die hingemordeten Juden aber würden aus ihren Gräbern auferstehen und den Frevel rächen. Wann werden wir endlich von solchen kindischen Träumen lassen? Darum will ich ein Feuer aus dir angehen lassen, das dich soll verzehren, und will dich zu Asche machen auf der Erde, daß alle Welt zusehen soll. Alle, die dich kennen unter den Heiden, werden sich über dich entsetzen, daß du so plötzlich bist untergegangen und nimmermehr aufkommen kannst.14
Wie müde bin ich dieser Erwartung eines Gesalbten, der kommen und alle Übel des Menschen rächen soll! Angesichts des verwüsteten Jerusalem sagte ich dem geplagten Manne weiter nichts Tröstendes, als daß meines Erachtens Gott kein Interesse an den Landbesitzverhältnissen hienieden nehme. Auf dieser Erde sind wir zweifellos dazu berufen, uns selber das Heil zu bringen, und auf einen vom Pöbel dazu herbeigerufenen Messias zu warten ist reine Zeitverschwendung. Wieviel schwieriger als diese müßige Frage nach der Stunde, da dieser erträumte Messias zu erwarten sei, ist doch diejenige zu beantworten, die dem Meister gestellt wurde: Wie denn, Herr, sollen wir in Frieden leben mit unserem Nächsten? Ja, wie mühevoll ist es doch, auf diese Frage die richtige Antwort zu finden!
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Und nun kommen wir zu einem Teil meiner Geschichte, der dir wohlbekannt ist. Für Geld
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