Der dreizehnte Apostel
und gute Worte (griechische, versteht sich, da ich die Sprache perfekt spreche, so daß ich mich, ohne Verdacht zu erregen, als Grieche ausgeben konnte) erhielt ich die Genehmigung, das Hauptquartier des Titus zu besuchen, wo man dich, immer in der Nähe des Herrn, wie einen Schoßhund oder ein anderes Haustier desselben, zu dessen Unterhaltung in ständiger Bereitschaft hielt.
Unsere Begegnung war nicht angenehm. Du schienst beleidigt zu sein, weil ich dich während deiner Gefangenschaft nie besucht hatte, und nicht gewillt, es als Entschuldigung gelten zu lassen, daß ich damals außer Landes war. Da du dir dann deine Freiheit verdient hattest, indem du an der Seite der Römer gegen dein eigenes Volk kämpftest, musstest du dir von mir sagen lassen, wie du durch dieses Verhalten mein, ja unserer ganzen Familie Ansehen in Judäa ruiniert hast. Bei dieser unserer letzten Unterhaltung erfuhr ich dann ja auch von dir, daß unser Familienbesitz dir übertragen werden sollte, während ich, von Haus und Hof vertrieben, deinetwegen ruhig am Bettelstabe meiner Wege gehen sollte. »Geh doch zu deinen nasiräischen Freunden«, sagtest du spottend, »sieh zu, was die für dich tun, denen du den ganzen Besitz unserer Familie in den Rachen zu werfen dich verpflichtet fühltest.«
22.
Täusche ich mich in der Erinnerung, daß bei dieser unserer letzten Begegnung ein gewisses Unbehagen aus deinen Augen sprach? Musstest du nicht vielleicht doch bei aller Selbstzufriedenheit ein Gefühl für deinen armen umherirrenden Bruder unterdrücken, mit dem du nicht gerechnet hattest? Ach, das wird sicherlich das letzte Mal gewesen sein, daß du mich sahst, den älteren Bruder, der dich innig liebte und über deine Kindheit wachte. Wie schmerzlich, daß unsere letzte Begegnung so ausfallen musste , wie sie war … Aber ach, mit solchen Erinnerungen ist nichts gewonnen. Fahren wir fort, Tesmegan!
(Diesen Passus können wir später streichen.)
23.
Unser Vater erlag zu dieser Zeit den Strapazen, die er während der Belagerung erduldet hatte, starb an Unterernährung und Entkräftung.15
Du erwartest vielleicht, daß ich dir die Schuld daran gebe, aber, lieber Bruder, unter all dem Unrecht, das du mir angetan hast, habe ich nie behauptet, dir auch die Schuld am Tode meines Vaters ankreiden zu wollen. Nein, er war ein alter Mann, kaum noch imstande, für sich selbst zu sorgen. Als Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht und sein Gut geplündert war, konnte er, und ich bin froh, das sagen zu können, kaum noch klar denken und verlebte seine letzten Tage wie ein Kind in liebevoller Erinnerung an seine erste Frau und rief zuletzt nach seiner eigenen Mutter, als wäre sie in der Nähe seines Bettes. Weniger geneigt bin ich allerdings zu vergeben, was mir selbst angetan wurde. In den Monaten nach dem Fall von Jerusalem meines Bruders, meines Besitzes, meines gesamten Barvermögens beraubt und gemieden von meinen Glaubensgenossen, suchte ich Zuflucht bei Apollonius, dem Sohn des Erechtheus von Lod, der ein Landgut in den benachbarten Hügeln hatte.
24.
Er war ebenso verarmt wie ich, aber als Knaben waren wir in Jerusalem Schulkameraden gewesen. Zwei seiner Töchter waren in Jerusalem verhungert, und seine beiden Söhne hatten nichts Besseres zu tun gehabt, als gemeinsame Sache mit den Sikariern zu machen und Masada zu verteidigen in Erwartung des Messias, der die Römer aus unserem Lande vertreiben sollte! Der Kummer dieses unglücklichen Vaters brach mir das Herz. Apollonius konnte mir in seinem Hause ein Dach über dem Kopf nicht bieten (die Römer, die von dir geliebten, hatten sein Anwesen abgefackelt), doch war ich’s zufrieden, Unterkunft in einem von der Feuersbrunst verschonten Stall zu finden, dessen vorige Bewohner von der Soldateska teils niedergemetzelt und an Ort und Stelle verzehrt, teils weggetrieben worden waren.
Während der Wintermonate blieb ich bei Apollonius und betätigte mich als dessen Rechnungsführer sowie als Erzieher der Kinder seiner Töchter, wie ich dir schrieb. Du warst nach Alexandrien entflohen, wo die Juden weniger aufgebracht gegen dich waren als hier, und ich hörte auch, du habest dort geheiratet, eine Frau, der ich nie begegnet war und für die ich mich mithin nicht hätte verbürgen wollen. Abermals schrieb ich dir von meinen beengten Umständen, doch hast du mir, auch auf erneute Bitten hin, Unterstützung nicht zukommen lassen. Und nicht genug, daß du mich von meinem Besitz vertrieben und
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