Der dreizehnte Apostel
Eusebius von Caesarea, erklärte, das Matthäusevangelium sei verlorengegangen und häretisch – seltsam, daß er von der häretischen Natur eines Texts, den er nicht gelesen hatte, so überzeugt war, meinen Sie nicht? In Wahrheit besaß Eusebius eine Abschrift des Matthias. Meiner Theorie nach besaß er alle diese angeblich verlorengegangenen Evangelien und bewahrte sie in einem Apokryphon auf, einer Geheimbiblio thek . Und ich glaube, daß diese Geheimbibliothek von Konstantin in Trier erbaut wurde.«
»Aber war es denn klug, ein solches Apokryphon in Trier zu errichten?« fragte O’Hanrahan. »Bei den Invasionen der Hunnen, der Barbaren …«
»Entschuldigen Sie, das genaue Gegenteil ist richtig. Trier war der perfekte Außenposten für umstrittene Gegenstände. Ein paar Priester in jeder Generation versteckten den Schatz geheimer Werke, weit weg von dem Gezänk und den Kämpfen im Mittelmeerraum. Fast jede bedeutende Bibliothek in der mediterranen Welt wurde zwischen dem 4. und dem
6. Jahrhundert geplündert und verbrannt, nicht wahr? Die Hunnen wollten Reichtümer … Was scherten sie sich um Schriftrollen und Texte?« setzte er hinzu, als wäre er dabei gewesen . »Ich wollte Ihnen ein merkwürdiges Kapitel der Geschichte Triers darlegen. Es heißt, daß ein Frauenkonvent die Schriftrolle aufbewahrte, die in den Tagen der Kreuzzüge, als die Schriftrolle zum erstenmal übersetzt und ihre Authentizität klar wurde, von den Tempelrittern und den damaligen Maurerlogen – Matthias ist der Schutzpatron der Bauarbeiter – beschützt worden war. Von den Frauen konnte man erwarten, daß sie die Schriftrolle bewahrten, da sie auf sehr – wie soll ich sagen? – feministische Themen hinwies. Ein weiblicher Heiliger Geist, ein bestimmender Einfluss von Maria Magdalena, Geschichten von einer geheimen Bibliothek nur für christliche Frauen, in der die wahre Offenbarung Christi existierte … viele merkwürdige Dinge. Und so wurde sie von den Schwestern der Abtei St. Matthias und den Maurerlogen über die Jahrhunderte hinweg bewahrt.« All das war O’Hanrahan neu, und er war nicht ganz sicher, ob er es glauben sollte.
»Der Inhalt des Evangeliums ist also bekannt?«
»Oh, die Übersetzung ist seit Jahrhunderten verlorengegangen, und nur ein paar Fragmente und Gerüchte vielleicht sind uns überkommen. Ich erzähle Ihnen nur, was meine eigene Mutter« – Kellner blickte kurz gen Himmel und schien tief bewegt – »was meine eigene Mutter, die ihre letzten Jahre selbst in der Abtei St. Matthias gelebt hat, mir auf dem Sterbelager über diese jahrhundertelang gehüteten Geheimnisse weitergegeben hat …« Wieder drohte er von Gefühlen übermannt zu werden. »Seit dieser Zeit habe ich es mir zum Ziel meines Lebens gemacht, das Matthäusevangelium zu erwerben.«
»Ja«, meinte O’Hanrahan langsam und sachte, »aber könnte sich dieses Evangelium, Herr Kellner, nach all unserer Mühe doch als nicht authentisch erweisen, wie Eusebius gemeint hat? Eine Fälschung aus späterer Zeit?«
Sein Gastgeber schien ungeduldig. »Aber wahrhaftig, Herr Professor, wir beide wissen doch, daß dieses Evangelium kein fiktives Werk ist. Und die Schwestern der Abtei St. Matthias und die Maurerlogen, die die geheime Bibliothek aufbewahrt haben, wussten auch, daß es keine Fiktion war. Tatsächlich ist Trier einfach deshalb von einer Tragödie betroffen worden, weil zu viele Leute vom Matthäusevangelium und seinen Geheimnissen wussten . Die Jesuiten, nicht weniger feindlich als heute.« Kellner verzog das Gesicht voller Abscheu. »Bischof von Schönborn, dieser Teufel, kam an die Mosel, um den Angriff gegen die Frauen von Trier und aus den umliegenden Dörfern zu leiten und eine der schlimmsten Hexenjagden in der europäischen Geschichte durchzuführen.«
(Die Trierer Hexenjagd von 1587 bis 1593, die von den Jesuiten geleitet wurde, von Erzbischof von Schönborn und Weihbischof Binsfeld, die beide nun in der Hölle jede einzelne Hexenverbrennung selbst nacherleben. In diesen sechs Jahren blieb keine Frau von der Folter verschont. 368 wurden als Hexen verbrannt. Nur zwei Frauen entgingen dem Wahnsinn unangetastet – eine alte Frau, die man für harmlos hielt, und ein schwachsinniges Waisenmädchen, das man für lächerlich hielt.)
Kellner fasste die Geschichte der Trierer Hexenjagd zusammen und Schloss : »Aber die alte Frau hatte das Matthäusevangelium in den Rocksaum des schwachsinnigen Mädchens eingenäht. Zumindest hat meine
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