Der dreizehnte Apostel
wir gestern Abend ausgemacht, wie?«
Lucy erkannte, daß eine Lüge hier günstig war, und bejahte. »Okay, okay, ich schütte mir etwas Wasser ins Gesicht, zieh’ meine Jacke an und binde eine Krawatte um.«
»Die Krawatte, die Sie umhaben, sieht ganz gut aus.« O’Hanrahan blickte auf sein zerknittertes Hemd und seinen umfangreichen Bauch, sah aber keine Krawatte. Er tastete über die Schulter und zog den schmuddeligen Seidenbinder, auf dem er die ganze Nacht gelegen hatte, wieder nach vorn. »Reizend«, murrte er. »Haben Sie einen bestimmten Ort im Auge, wo wir das Fasten brechen sollen?«
»Wo Sie wollen, Sir.«
O’Hanrahan schlug vor, zum Randolph Hotel zu gehen; er ging rasch voran, so daß Lucy, die ihm durch die Innenhöfe nachrannte, immer ein oder zwei Schritte zurück war. Sie nahm allen Mut zusammen und versuchte, persönlich und gesprächig zu sein: »Sie und Pater Beaufoix schienen gestern Abend ein wenig, äh, kampflustig zu sein.«
»Wir sind immer so, seit wir uns nach dem Krieg in Beirut kennengelernt haben.« O’Hanrahan überlegte einen Moment, ob er über den Mann herziehen sollte, äußerte dann aber höflich: »Er ist ein Genie in afrikanischen Sprachen, ein wahrhaft … wahrhaft großer Mann auf seinem Gebiet. Ich kann nur diesen ganzen marxistischen Scheiß nicht ausstehen. Wozu ist man ein progressiver, radikaler Gelehrter, wenn man im nächsten Augenblick eine Kehrtwende macht und eine erstickende Ideologie wie den Marxismus annimmt – noch dazu eine gescheiterte, diskreditierte Orthodoxie …« Er unterdrückte ein Gähnen. »Wir sind nicht mehr miteinander ausgekommen, seit er mich bei einem öffentlichen Vortrag in Paris über die Ursprünge des Heiligen Geistes angegriffen hat. Ich sagte, Sie sei der älteste und ursprünglichste Teil der christlichen Dreifaltigkeit.«
»Sie?«
O’Hanrahan kramte in seinen Taschen nach Zigaretten und runzelte die Stirn, als er feststellte, daß er die Packung in seinem Zimmer gelassen hatte. »Einen Augenblick«, sagte er. Er schlüpfte durch einen der vielen Eingänge in die Markthallen und kam kurz darauf mit einer brennenden Zigarette im Mund wieder heraus. »Auch eine?« bot er halbherzig an.
»Äh, nein«, lehnte Lucy ab. »Früher in der Schule habe ich ein bisschen geraucht, aber die Nonnen haben mir die Hölle heiß gemacht …« O’Hanrahan, das spürte Lucy, war das so egal wie nur irgendetwas . »Der Heilige Geist ist weiblich?« wiederholte sie.
»Allerdings. Der Heilige Geist ist ein Begriff, der aus der jüdischen Vorstellung von der Sophia, dem Geist der Weisheit des Ekklesiastes, der Weisheit Salomos hervorgegangen ist. Zu Jesu Zeiten war sie so populär, daß sie der einzige Rivale war, den Jahwe je hatte; die Weisheit hat dem Monotheismus langsam den Garaus gemacht. Christus benutzte dann das aramäische Wort ruah, der Geist, ein Wort mit weiblichem Genus, wie im Hebräischen und im Arabischen heute noch.«
»Wow, ein cooler Gedanke.«
»Nicht nur cool, sondern historisch korrekt«, erklärte Dr. O’Hanrahan, der bei seiner Zigarette und im spätvormittäglichen Treiben der vorbeihastenden Menge auftaute. »Seit 35.000 Jahren gibt es Spuren des Menschen, und praktisch für diese ganze Zeit gibt es auch Spuren einer Großen Mutter oder Erd göttin . Dann kommen wir ins Zeitalter von Hieronymus, Augustinus und Ambrosius vor etwa 1700 Jahren – und pffft! ist unsere Große Mutter futsch. In der frühen Kirche gab es eine Höchste Mutter, den Heiligen Geist. Die größte antike Kirche der Christenheit, die Hagia Sophia in Istanbul, wurde für die Heilige Weisheit erbaut, ebenfalls weiblichen Geschlechts. Aber die Kirchenväter eliminierten alle Spuren von ihr; unter Hieronymus, dem alten Frauenfeind, wurde sie zum Spiritus Sanctus, wurde also männlich.«
Bis zur Cornmarket Street, dem modernen Boulevard mit schicken Schaufenstern und Doppeldeckerbus-Haltestellen ließen sie sich unbehaglich schweigend inmitten von Auspuffgasen und wochentägli chen Einkäufern dahintreiben.
»Hrrm«, räusperte sich O’Hanrahan schließlich, entschlossen, Konversation zu machen, ohne daß er recht wusste , warum. »Worum geht es bei Ihrer Doktorarbeit?«
»Oh«, antwortete Lucy und atmete tief ein, »ich interessiere mich für die Verschiebungen im korinthischen Alphabet im 4. Jahrhundert v. Chr. Sind Sie vertraut mit der Entwicklung mancher der Buchstaben, wie zum Beispiel des korinthischen lambda und sigma zu jener Zeit? Ich
Weitere Kostenlose Bücher