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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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Augen, und seine Hände hatten etwas an sich, das Lucy anzog. Es war irgendwie so unwahrscheinlich, sich Gabriel als sexuellen Partner vorzustellen, daß Lucy immer wieder darüber nachdenken musste . Gegen jeden Rat und auch gegen ihren eigenen Willen hatte sie gespürt, daß ihre alte Zuneigung für ihn wieder in ihr hochkroch, als sie zusammen im Hyde-Park-Viertel von Chicago studierten.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mr. O’Donoghue eine Frau sehr glücklich macht, wenn du weißt, was ich meine«, hatte Judy vor kurzem gesagt.
    »Er hat Freundinnen gehabt«, hatte Lucy ihn verteidigt. »Ja, aber sie waren nur gute Freunde«, hatte Judy erwidert. »Gabe ist anscheinend der einzige, der nicht denkt, daß er eine Tunte ist.« Tunte, dachte Lucy. Das Vorurteil war so abgenutzt und alt wie dieses Wort.
    »Christopher hat mehr Chancen bei Gabriel als du«, erklärte Judy. Christopher war ein gemeinsamer Freund von ihnen im Fachbereich. Ein sanfter, schmächtiger, katholischer Junge – zum Teufel, was heißt hier Junge, er war immerhin fünfundzwanzig –, der noch schüchterner und schmaler war als Gabriel, fotogen, aber wegen seiner wenig markanten Gesichtszüge in der Realität weniger anziehend. Gabriel war immer sehr angeregt, wenn er mit Christopher zusammen war; Lucy dagegen brachte den Jungen nie dazu, genügend zu sagen, damit sie hätte beurteilen können, ob er intelligent oder dumm war. Sie versuchte manchmal, ihn zu ein paar zusammenhängenden Sätzen zu animieren, aber sehr oft meinte Christopher nur: »Du weißt, was ich meine, Gabriel. Wir haben neulich abends darüber gesprochen.«
    »Gabriel selbst weiß es vielleicht nicht, aber er will mit Christopher ins Bett. Pass lieber auf, Luce. Du willst doch nicht als Schwulenmami enden.« Das war Judys guter Rat zum Thema. Typisch Judy: völlig sicher, in welche »Kategorie« ein Mensch einzuordnen war. Aber manche Menschen, so wie Gabriel und übrigens auch Lucy selbst, widersetzten sich einer so einfachen Definition. Gabriel war einfach unsicher, und eines Tages, in einer unvorhersehbaren, unbestimmten Zukunft, stellte Lucy sich vor, würden sie beide in eine Art Liebesaffäre stolpern. Okay, für eine romantische Wunschvorstellung war das ein bisschen vage, aber das war es nun mal, was sie wollte. Darauf hatte sie gesetzt. Seit einigen Jahren schon.
    (Aber das war nicht dein einziges Interesse an Gabriel.)
    Nein, sie hatten bei ihren Diskussionen spätnachts eine Abmachung getroffen, von der Judy bloß nie etwas hören durfte – ihr Spott wäre ungeheuer. Lucy beneidete Gabriel in gewisser Weise darum, daß er im letzten Jahr den Franziskanern beigetreten war. Zumindest gehörte er irgendwo dazu. Es gab soviel Wichtiges zu tun, und es war sicher von Nutzen, wenn man dabei die Unterstützung eines Ordens hatte. Lucy hatte vorgeschlagen, sie könnte den Klarissinnen beitreten, und vielleicht könnten sie und Gabriel zusammen eine Obdachlosenherberge gründen, vielleicht eine Klinik für Kinder aus Slumvierteln oder ein Hospiz für Aidskranke.
    (An diesen Überlegungen war nichts Lächerliches.)
    Aber Lucy, die nach ihrem Magisterabschluß an der Uni geblieben war, hatte sich für einen anderen Weg entschieden – sie würde nie Nonne werden. Eine Nonne zu werden hätte eine Niederlage bedeutet. Es hätte bedeutet, vor ihrer Mutter, ihrer jungfräulichen Tante Lucy, der Heiligen Römischen Kirche und all den Greueln der Nonnengemeinschaft von St. Eulalia zu kapitulieren. Gehorsam, Unterwerfung, Demut, Ergebenheit vor Gott im Himmel und vor den verknöcherten alten Junggesellenpatern auf der Erde – das war alles, was die Kirche einer Frau zu bieten hatte. »Frauen, die ins Kloster gehen«, behauptete Judy wiederholt, »haben einfach Angst vor Sex. Sie sind wie die Kranken im letzten Jahrhundert, die lieber im Bett geblieben sind, als sich dem Leben zu stellen. Oder sie sind Lesbierinnen.«
    Himmel, Judy ging ihr auf die Nerven!
    Lucy konnte die Gedanken nicht abstellen und zog triste Bilanz: Wenn sie sich schon vor einer religiösen Berufung drückte, wäre es besser gewesen, den Bruch mit achtzehn zu vollziehen, als sie noch Zeit gehabt hätte, ihre Jugend voll auszukosten, zu reisen, Abenteuer zu erleben, Männergeschichten zu haben. Ich stand mit einem Fuß in der profanen Welt und mit dem anderen außerhalb davon, erkannte sie. Die Jahre sind dahingeflogen, bald bin ich 30 und habe zuviel vom Leben verpasst . Jahr um Jahr ist verstrichen, und

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