Der dreizehnte Apostel
es könnten seine Eltern sein. Warum glaubst du, daß er …
Oh, natürlich. O nein. Nicht wieder der Holocaust. Dieser klaffende Abgrund, der hinter dem Alltag in Israel lauert, der nur in wenigen glücklichen, abgelenkten Augenblicken fort ist – bei einer Hochzeit oder wenn man in ein Buch vertieft ist –, aber niemals wirklich fort, dieses nicht wiedergutzumachende Unrecht. Lucy wandte sich ab von dem Regal und den Fotos, sie wollte keinen Anstoß geben, dieses Thema anzuschneiden und zu hören, wie Rabbi Hersch diese Worte sagte, diese Litaneien von toten Verwandten und Leuten, die nicht rechtzeitig aus Europa herauskommen konnten, die statt dessen ihre Mittel darauf verwandt hatten, ihre Kinder hinauszuschmuggeln. Dieser scharfe Stich von Trauer, den sie fühlte – multipliziert mal zwei, dann mal fünf für alle Onkel und Tanten von Mordechai Hersch, dann mal zehn für die nahe Familie, dann die Augen schließen, das Ganze mal eine, zwei, drei, vier, fünf, sechs Millionen …
»Bei Golda’s wird es Ihnen gefallen«, sagte der Rabbi munter, als er hereinkam, um einen weiteren Bü cherstapel vom Sofa auf den Esstisch zu laden.
Lucy wandte sich ab. Mit welcher Würde pflegte er ihr Andenken – an keinem Punkt ihrer freundschaftlichen Debatte hatte er ihren Tod oder sein eigenes Leid prostituiert. Hatte es ihn fundamental verändert und geformt? Es musste so sein. Hatte er deshalb keine Frau und keine Kinder, aus Furcht vor noch mehr Verlusten? Hatte er deshalb Rabbi werden müssen – ein großer Rabbi? Um die Stelle des Vaters einzunehmen, den er nie richtig kennengelernt hatte, um ein gemeinsames Leben mit ihm zu haben, vielleicht denselben Spuren von Gedanken und Vernunft zu folgen?
» … man weiß, daß es einen Jahre seines Lebens kostet«, sagte der Rabbi, »aber ich kann nicht auf den Borschtsch bei Golda’s verzichten. Sie serviert ihn kalt wie einen Milkshake, und dann sieht man, wie sie Sauerrahm hineinrührt … Man spürt förmlich, wie die Arterien sich verstopfen, aber …«
Was hat die Welt einem Mann wie Rabbi Hersch zu sagen? Nur Gott kann eine angemessene Antwort auf sein Leid geben, eine angemessene Entschädigung für seinen Verlust. Seine Trauer dauert ein Leben lang. Für mich, dachte Lucy weiter, war es nur für einen Augenblick – aber meine Augen haben sich mit Tränen gefüllt, mein Herz hat gebebt, und dabei habe ich ein Millionstel des Grauens erblickt, das einen dazu bringen könnte, das Leben und Gott selbst zu hassen. Ich habe einen Knochen in dem Berg von Gebeinen berührt, meinen Mund mit Asche gefüllt.
(Gut. Jetzt hast du alles, was du wissen musst , Mein Kind, um den Staat Israel zu verstehen.)
YYY
O’Hanrahan warf vom Hotel Intercontinental aus einen letzten Blick auf die Altstadt im Mittagslicht, den goldenen Felsendom und dahinter den Tempel Berg mit seinen Kirchtürmen in der Nähe der Grabeskir che . Dann verließ er das Gebäude, ging zu dem Taxi, das vorn in der Reihe stand, und bat, zum Damaskustor gebracht zu werden, wo er in eineinhalb Stunden Rabbi Hersch und Lucy treffen sollte. Der Fahrer deutete auf einen anderen Fahrer, der ihn wieder an einen anderen verwies, weiter hinten in der Reihe … »Sind Sie jetzt der Richtige?« fragte O’Hanrahan. »Ja, ja«, erwiderte der Fahrer und hielt dem Professor die Tür auf. Als sie den Parkplatz verließen, sah O’Hanrahan eine elegant gekleidete Frau aus dem Hotel kommen und in das erste Taxi in der Reihe steigen, so wie auch er es versucht hatte. »Warum haben die anderen Fahrer mich zu Ihnen geschickt, Sir?« fragte O’Hanrahan.
»Weil wir eine kleine Fahrt vorhaben.«
»Nein, ich brauche keine Rundfahrt«, widersprach der Professor in klarem Arabisch.
»Es ist keine Rundfahrt«, erklärte der Fahrer, immer noch auf Englisch . O’Hanrahan lehnte sich in den Sitz zurück. Wohin würde er wohl diesmal gebracht werden, und wer wollte ihn wohl sehen? Anstatt den Ölberg hinunterzufahren, schien der Fahrer weiter auf die West Bank zuzusteuern, in Richtung eines Dorfes, das die Christen als Betanien kennen und das die Moslems nach dem auferweckten Lazarus El Aza riya genannt hatten. Das war auch die Straße nach Jordanien. Als O’Hanrahan durch die Heckscheibe hinaussah, erblickte er einen roten Golf Sedan, der ihnen dicht folgte. Zusätzliche Sicherheit, meinte O’Hanrahan, für den Fall, daß ich aus dem Auto springe und zu fliehen versuche. »Wohin fahren Sie mich?«
»Sie trinken gerne
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