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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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und der Professor reden immer über Meroïtisch, und ich habe im Lexikon nachgeschlagen. Dort steht, es sei eine verlorene Sprache.«
    Der Rabbi rieb sich die Augen. »Haben Sie von der Schrift aus dem Indus-Tal gehört? Jedes Jahr hat irgendjemand sie angeblich geknackt, veröffentlicht eine Abhandlung, gibt eine Party – und jedes Jahr hat sich dieser Jemand geirrt. Oder nehmen Sie das Etruskische. Man kennt ungefähr zehntausend Wörter aus dieser Sprache, aber die Grammatik hat man immer noch nicht erschlossen. Glauben Sie lieber daran, daß es verlorene Sprachen gibt.« Der Rabbi öffnete eine kleine Mappe, nahm die Bücher heraus und legte statt dessen andere von einem der vielen Stapel hinein, während er weiterdozierte: »Das ist das Verdammte an diesem Meroïtisch: Wir können die kuschitischen Sprachen ein klein wenig entziffern, außerdem die meisten Dialekte aus Aksum, das altäthiopische Ge’ez und das Falasha-Semitische, ein bisschen von dem nubischen Gekritzel … und dann haben wir hier diese verteufelte Schrift, das Meroïtische aus der Mitte des 1. Jahrhunderts. Ägypter und Griechen waren in Meroë, Römer, Juden, dann die Christen – sie trieben Handel mit Persern, Indern, so-gar mit den Chinesen. Ein Haufen schvarzes, äh, Schwarzafrikaner – aber ich kann Ihnen versichern, keine andere Gesellschaft dieser Zeit war ähnlich kosmopolitisch. Bei all diesen Einflüssen müsste die Sprache kinderleicht zu entschlüsseln sein! Aber es gibt keine Spur von irgendetwas Vertrautem.«
    Lucy seufzte. »Es besteht also die Möglichkeit, daß Sie und Dr. O’Hanrahan das Rätsel nie lösen werden.«
    »Nein«, antwortete der Rabbi mit harter Stimme, »die Möglichkeit besteht nicht!«
    Lucy ließ ihn einen Augenblick nachdenken.
    »Weil Rabbi Jacob Rosen dieses Ding, etwa zwei Wochen nachdem er es gekauft hatte, lesen konnte. Aber er war sehr verschwiegen. Durch ihn wissen wir, daß das Evangelium an Josephus, den jüdischen Historiker, adressiert ist und angeblich vom Apostel Matthias stammt. Rabbi Rosen sagte auch noch andere Dinge, aber wer achtete schon groß darauf? Wer konnte ahnen, daß er sterben würde, während er m it ten in der Übersetzung steckte, geschweige denn, daß die Rolle gestohlen werden würde?«
    »Hat er Notizen gemacht?«
    »Ein Blatt von seinen Notizen – er hatte Hunderte von Seiten beschrieben – ist dem Dieb entgangen. Der Rabbi hatte es als Lesezeichen benutzt, und ich habe es zufällig gefunden. Eine Reihe von Sätzen stehen darauf, von denen wir glauben, daß sie in der Schriftrolle vorkommen. Aber genau wissen wir es nicht.«
    Lucy erinnerte sich, daß sie diese Sätze, auf Hebräisch , in O’Hanrahans Tasche gesehen hatte, bevor seine Unterlagen auf dem Berg Athos gestohlen worden waren: Die Hure Helena. Benjamin der Sklave. Alle Häresien widerlegt. Die Gebeine des Messias. »Und dann die Sache mit dem letzten Kapitel«, fügte der Rabbi hinzu. »Rosen kam einmal auf dem Gang an mir vorbei und schien sehr aus der Fassung, was auffallend war – normalerweise war er immer fröhlich. Ich war 1949 Doktorand und zögerte, mit dem großen Mann seichte Konversation zu machen, aber ich fragte ihn doch, was los sei. Er sagte, das Evangelium sei ein sehr gefährliches Buch. Ich fragte, was er meine, und er antwortete: ›Wenn es auf das hinausläuft, was ich vermute, wird es auf der Welt keinen sheygets geben, der dieses Ding nicht verbrennen will.‹ Und dann sagte er noch: ›Glauben Sie, daß die Nichtjuden das überleben könnten?‹«
     
    Lucy grübelte darüber nach. »Sie glauben also, in diesem letzten Kapitel steht etwas Unangenehmes über Christus.«
    »Ich glaube nicht, daß Professor Rosen lange genug gelebt habt, um bis zu diesem letzten Kapitel vorzudringen.«
    »Und nun ist es verloren.«
    Der Rabbi antwortete nicht direkt. »Es ist nicht bei der Schriftrolle dabei, aber ich würde nicht sagen, daß es verloren ist.«
    Rabbi Hersch beschloss , das Sakko zu wechseln, und ging in sein Schlafzimmer. Lucy stand auf und betrachtete erneut die alten Fotos. Ein Mann und eine Frau waren abgebildet, ein Rabbi und seine junge Braut mit schönen, hoffnungsvollen Augen, das Haar zurückgestrichen unter dem Kopftuch. Der Mann hatte Rabbi Herschs Augenbrauen und seinen klugen Blick. Der Hintergrund erinnerte an eine mitteleuropäische Stadt. Lucy meinte, O’Hanrahan habe ihr erzählt, daß der Rabbi von seinem Onkel in Brooklyn aufgezogen worden war. Aber dieses Paar –

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