Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
Vom Netzwerk:
ein paar Gänge weiter nach hinten zu den Propheten und den Besharim, den Kommentaren. Zwei ganze Regale für Ezechiel, ebenso für Jeremia und Jesaja. Dann die »kleinen« Propheten. Vor ihm im Regal stand Habakuk: Die Großen Kommentare.
    Ein Meisterwerk. Eine Ausgabe in Hebräisch, eine in Englisch. Sie erklärten den Propheten und die Kommentare und die Kommentare über die Kommentare, die Midrasc him. Das Buch Habakuk in der Bi bel umfasst nur drei kleine Kapitel, und dennoch hatte der Autor dieses Kommentars es fertiggebracht, darüber 450 Seiten zu verfassen, in der besten Tradition jüdischer Gelehrsamkeit, bei der der Originaltext zurücktritt hinter der Arbeit eines assoziativ denkenden Geistes, der frei mit dem Stoff spielt. Jahrhundertelang hatten Juden und Nichtjuden das Buch Habakuk in der Bibel gelesen, diesen großen Dialog zwischen Gott und seinem Propheten, der gefangen war bei den Chaldäern. Ja, wir verdienen deinen Zorn, o Herr, aber muss es durch die Hand der Chaldäer sein, die so viel größere Frevler sind? Wie oft mussten Juden sich an diese Zeilen erinnert haben, als sie später durch die Hand der Griechen, Römer, Byzantiner, Katholiken, Moslems und Nazis litten. Doch Jahwe ist in seinem heiligen Tempel. Vor ihm schweige die ganze Erde!
    O’Hanrahan blätterte weiter und überflog ein paar Abschnitte. Das Buch war in gelehrter und doch stets wunderbar flüssiger Prosa geschrieben. Habakuk war vollkommen. Ein kleines Buch, ein »kleiner« Prophet, über den für die meisten alles zur Zufriedenheit gesagt war.
    Mordechai Hersch! Wie hast du das fertiggebracht! Du Genie! Du alter Schurke! Woher hast du diese Geduld, diese Disziplin? Hätte Gott mir nur eines dieser Bücher mit meinem Namen gewährt …
    (Du hast mehr als genug Intellekt mitbekommen, um eines zu schreiben.)
    Ich weiß, ich weiß, dachte O’Hanrahan, als er durch das Register blätterte. Sieh dir die Fußnoten an: Jede kleinste Flexion der hebräischen Tempora wird wahrgenommen. Bei diesen prophetischen Schriften überaus wichtig – ist Gottes Zorn im Konditional oder im zweiten Futur ausgedrückt? Schau dir diese Danksagungen an … O’Hanrahan Schloss das Buch und hielt es ehrfürchtig in der Hand, eine Art moderne Reliquie des Intellektuellen. Du sollst nicht begehren deines Kollegen Werk, sagte er sich. Sieh dir an, was sie über den Autor schreiben: Mordechai Israel Hersch lehrt Hebräisch und Vergleichende Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität. Er übernahm den Lehrstuhl von Professor Rosen etc. etc. Listen von Auszeichnungen und Anerkennungen, ehrenhalber verliehene akademische Grade. Weitere Werke des Autors: »Die Aschkenasim in Preußen 1880-1900«. Sein erstes Buch, nicht brillant, aber gründlich und beachtenswert, erinnerte sich O’Hanrahan. »Neue Offenbarungen aus Qumran«, das Ergebnis seiner Arbeit an den Schriftrollen vom Toten Meer. Ich habe die doppelte Zeit an der Dan keshymne gearbeitet, dachte er bitter, und habe trotzdem nichts darüber geschrieben. »Nicht der Messias«, ein Pamphlet gegen die »Juden für Jesus« zu Beginn der siebziger Jahre, das weltweite Aufmerksamkeit erregte -Mordechai! Ich beneide dich sogar um deine Torheiten! Mordechai Hersch arbeitet an einer mit Spannung erwarteten Biographie und einem Kommentar über Flavius Josephus, den jüdischen Geschichtsschreiber aus dem 1. Jahrhundert, Schloss der Absatz.
    O’Hanrahan Schloss die Augen. Habakuk 3, 19: Jahwe, der Herr, ist meine Stärke, er macht meine Füße denen der Hindinnen gleich und führt mich zur Höhe empor. Mordechai, du bist zur Höhe emporgestiegen! Ich bin gestolpert und ausgerutscht … nein, nicht einmal gestolpert! O’Hanrahan stellte Rabbi Herschs Buch wieder in das Regal. Nein, nicht einmal gestolpert, setzte er seinen Gedankengang fort. Ich bin am Fuß des Berges stehengeblieben und habe nicht einmal versucht, ihn zu erklimmen. O’Hanrahan an der Bar, trinkend und jedem, der zuhören wollte, etwas vor schwadronierend , alles herauspinkelnd, alles zerredend. An all diesen Abenden hättest du dich Studium und ernsthafter Weiterbildung widmen können – wie Mordechai Hersch es getan hat –, aber du, Paddy, hast deine Vorstellung gegeben, wolltest ein Publikum, wolltest der Zirkusdirektor sein.
    (Ihr habt also beide bekommen, wofür ihr gearbeitet habt.)
    Richtig. O’Hanrahan, der Clown, und Mordechai, der Gelehrte. Genug für heute von der Bibliothek – ein starker Drink, das ist’s, was

Weitere Kostenlose Bücher