Der dreizehnte Apostel
waren. Aber dann, als sich die Staubwolke vor die Sonne schob, wurde die ganze Wüste plötzlich schaurig düster; der lose Sand der Dünen in der Nähe begann unter dem stärker werdenden Wind zu tanzen. Der Sturm pfiff um den Lastwagen und zerrte an der Segeltuchplane. Mohammed fand die Abzweigung zum Nil, und Lucy sah ängstlich nach rechts: kein Himmel mehr, kein Licht, nur ein immer näher kommender Vorhang von aufgewirbeltem Sand.
»Es war doch soeben noch ein vollkommen ruhiger Tag«, sagte Lucy.
»Wie …«
»Nichts, was hier draußen passiert, braucht einen Grund«, sagte O’Hanrahan und hielt sich das Taschentuch vor den Mund. Mohammed sagte etwas; seine Stimme klang nicht besonders besorgt. »Mohammed meint, es sei besser, wenn wir uns hinten auf die Ladefläche setzen«, erklärte O’Hanrahan. Mohammed machte die Fahrertür auf, und das Heulen des Windes war nun doppelt so laut.
Der Wagen war so geparkt, daß das Kühlergitter geschützt war, der hintere Teil des Wagens würde also der vollen Wucht des Sturms ausgesetzt sein. Sandpartikel, die stachen wie Nesseln, flogen Lucy ins Gesicht, peitschten die Haut. Sie presste die Augen zu, und Mohammed nahm sie am Arm und half ihr. Als sie um die Ecke des Wagens bogen, traf sie der Wind mit voller Wucht. Lucy spürte, wie ihr Sand in die Nase drang, erschrocken atmete sie durch den Mund und hatte sofort die Lunge voller Staub. Sie versuchte, ihn auszuspucken, während Mohammed sie auf die von der Plane umschlossene Ladefläche hob. O’Hanrahan rollte sich über die geschlossene Ladeklappe, und dann kletterte Mohammed herein und schlug das Segeltuch ein.
Lucy wischte sich mit dem Ärmel die Augen aus. Unter den Augen, in den Ohren, in der Nase, unter der Bluse, überall war der hochgewirbelte Staub eingedrungen, durch die Kleidung und bis auf die Haut. Sobald Lucy sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, suchte sie sich ein relativ sauberes Plätzchen und kauerte sich hinter den Paketen zusammen; leicht belustigt sah sie zu, wie O’Hanrahan sich neben den Hühnerkäfigen niederließ.
Mohammed murmelte weiter seine Gebete und rieb seinen Schraubenzieher, hielt ihn fest, küsste ihn …
»Ich bin neugierig, aber ich bin nicht ganz sicher, ob ich es wirklich wissen will«, meinte Lucy gelassen.
»Hat bestimmt etwas mit einem Dschinn zu tun«, sagte O’Hanrahan. Lucy zog die Beine an den Körper und umschlang ihre Knie. »Es ist seltsam, nicht wahr, wie diese kleinen Untergötter und Minidämonen sogar durch die absolut monotheistischen Religionen geistern.«
»Andere Religionen haben immer etwas Malerisches. Ich zum Beispiel mag den Gedanken an Geister. Bei den ganzen Erdbeben, Sandstürmen und Hungersnöten hier ist es sehr verlockend, Gott grausam zu finden. Oder Unfälle und Verletzungen.« Ein verblasstes Foto von Beatrice und Rudy, das er in der Brieftasche trug, kam ihm plötzlich ins Gedächtnis. Er schob den Gedanken beiseite. »Aber wenn man einmal erklärt, daß es alle Arten von mutwilligen Dschinns gibt, die herumtanzen und Chaos verursachen …«
»Wie die irischen Elfen«, warf Lucy ein. »Oder die skandinavischen Trolle …«
Der Lastwagen begann heftig zu schwanken. Mohammed flehte den Dschinn, der diesen Sturm verursachte, an, seinen Schraubenzieher anzunehmen. Schließlich legte O’Hanrahan Mohammed die Hand auf die Schulter und fragte ihn, was er tue, vielleicht könnten Lucy und er helfen. »Hadid! Hadid!« brüllte Mohammed weiter gen Himmel. »Aha«, meinte O’Hanrahan, während er zuhörte und sich gelegentlich zu Lucy umsah. »Es ist der Dschinn Zauba’ah, der diese Stürme hervorruft, und er hat nur vor einem Ding Angst, nämlich vor Eisen. Daher wird uns nichts passieren, wenn wir«, O’Hanrahan streckte die Hand nach Mohammeds Werkzeugkiste aus, »diese eisernen Werkzeuge an die Brust drücken.« Mohammed lächelte kurz und nickte mehrmals glücklich, weil seine Schützlinge nun in Sicherheit sein würden. »Hadid!« schrie O’Hanrahan dem Dschinn zu.
Lucy umklammerte einen rostigen Schraubenschlüssel. »Hadid«, murmelte sie und bemerkte, daß O’Hanrahan in sich hineinlachte. Sie begann ebenfalls zu lächeln. Mitten im Nichts, im Toben eines Sandsturms, zusammengekauert zwischen Hühnern, vertrieben sie einen bösen Geist mit einem Schraubenzieher. Zehn Minuten verstrichen.
Es ist möglich, stellte Lucy fest, daß man sich während eines Sandsturmes langweilt, sobald man nur sicher ist, nicht in Lebensgefahr zu
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