Der dreizehnte Apostel
schweben. O’Hanrahan rückte ein wenig näher. »Es gibt auch gute Geister, manche sind ergebene Muslime. Wenn eine Schlange während der Gebetszeit in eine Moschee kriecht, ist sie ein böser Dschinn in Verkleidung; zu einer anderen Zeit kann sie ein guter Dschinn sein, der allein zu Allah beten will.«
»Aha.«
(Die Geschichten von den Dschinns! Der Shiqq etwa ist ein schreckliches Wesen, ein halber Mensch, der Länge nach durchgeschnitten. Er ist sehr freundlich, bis er sich umdreht und man erkennt, daß er nur ein halber Mensch ist – während man erschrickt, greift er einen an. Aber er ist nicht annähernd so bekannt wie der Geist Nasnaas, ebenfalls ein halber Mensch, der unheimlich flink hüpfen kann. In jemenitischen Geschichten liest man unzählige Berichte darüber, daß der Nasnaas gefangen und gegessen wird – noch im
20. Jahrhundert hieß es, daß sein Fleisch einen süßen Limonengeschmack habe. Wie die Geister der Insel Java hat er den Kopf au f der Brust. Tir hat die unfehl bare Gabe, Kriege zu verursachen, al-A’war ist der Geist der Erektion. Aber hütet euch vor Dahsim, der jeden Ehestreit herbeiführt, und der ägyptischen Geißel, dem Dschinn Zalam-buur, der für Straßenverkehr und Kreuzungen zuständig ist. Der Ghaddar lauert in dunklen Höhlen und dunklen Zimmern, und Kinder tun gut daran, sich vor ihm in acht zu nehmen. Der am meisten gefürchtete Dschinn ist Iblis, der gefallene Engel, der vom Propheten erwähnt wird; er erscheint oft in Gestalt einer Frau, bringt verbotenen Wein und ist ein Meister der Poesie und Musik. Man hält ihn oder sie für den Anführer aller geringeren Shaitans.
Dies alles glauben zumindest Unsere muslimischen Kinder.)
»Die Völker des Sudans deuten Sternschnuppen als einen Versuch Allahs, einen bösen Dschinn mit einem Steinwurf zu erwischen«, erinnerte sich O’Hanrahan. »›Möge Allah den Feind des Glaubens vernichten!‹ sagen sie, während wir uns beim Anblick einer Sternschnuppe im stillen etwas wünschen.«
»Wieviel von dem Zeug wird heute noch geglaubt?« fragte Lucy. »Wie viele Christen auf der Welt glauben, daß es einen Dämon mit Namen Legion gibt? Einen Engel namens Gabriel?« Plötzlich trat völlige Stille ein.
Mohammed küsste den Schraubenzieher und löste einen Knoten der Leinwandklappe. Es sei wieder klar, verkündete er und half den Mitreisenden von der Ladefläche herunter. Als Lucy auf den weichen Sand hüpfte, der ihr in die Schuhe drang, sah sie um den Lastwagen herum eine neue, etwa einen Meter fünfzig hohe Düne und über sich nichts als den klaren blauen Himmel. Sie spähte um den Wagen herum, nach Norden, Süden, Osten, Westen … keine Rauchwolke, kein Sandsturm, nur der ruhige, azurblaue Nachmittagshimmel.
O’Hanrahan war ebenso verwirrt wie sie. Er sah auf die Uhr, schüttelte sie und fluchte, daß Sand eingedrungen sei. Er und Lucy sahen einander an, überzogen von einer feinen Staubschicht, so wie AI Jolson während seiner Show mit schwarzem Glitzerpuder. O’Hanrahan stimmte leise »Mammy« an, bis Mohammed ihn besorgt anstarrte. Während des Sturms war es kühl gewesen, eigentlich erfrischend; jetzt war es wieder backofenheiß, und Lucy und O’Hanrahan kehrten ohne Begeisterung wieder in die Fahrerkabine und zu den Flaschen lauwarmen Wassers zurück, um einen neuen vergeblichen Versuch zu machen, ihren unstillbaren Durst zu löschen. Mohammed erklärte O’Hanrahan, daß sie gegen Abend Delgo errei chen würden.
O’Hanrahan sah durch das schmutzige Fenster hinaus in die Wüste, diese endlose Fläche, die gelbbeige in der glühendheißen Nachmittagshitze flirrte. Es musste an die 50 Grad Celsius haben. Ein Ort, an dem man bei sich selbst sein konnte, so wie die Mönche des Wadi Natrun in ihren Höhlen. Es kann keinen stilleren, einsameren Ort geben. Man braucht eine Wüste, dachte O’Hanrahan, um eine Religion zu erfinden. Islam, Christentum, Judentum – alles Produkte von Leuten, die sich zu lange hier draußen in der Sonne aufgehalten haben.
Er dachte an die »weidenden« Mönche, die, wie das Vieh, von Gras und Kräutern lebten, die sie direkt vom Boden fraßen. Die Baummönche, die auf Bäumen lebten und darum beteten, von Stürmen, Geiern und Blitzen gegeißelt zu werden. Koptische Mönche, die sich Ketten in die Barte flochten, um in ständigem Schmerz zu leben; manche Kopten verbrachten ihr gesamtes Leben mit solchen Gewichten. Manche lebten in Zellen, die zu klein waren, um aufrecht zu stehen oder
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