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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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menschlichen Leben und seinen Schwächen, zu deinem eigenen am wenigsten.)
    Nun, meine Liebe zu mir selbst kommt zurück.
    Seit Griechenland hatte ich Zeit, um über alles nachzudenken: Ich war ein schlechter Ehemann, ein schlechter Vater, ein intoleranter, voreingenommener Leiter des Fachbereichs … Aber weißt du was? Es ist mir egal! Ich habe mich schuldig gefühlt wie ein guter Ire, aufs Stichwort hin, so wie ein guter Katholik, aber dieses Schuldgefühl ist nun erstarrt zu Gleichgültigkeit, die besser ist als lebenslängliche Einsamkeit, mit der ich für diese frü heren Vergehen hätte büßen müs sen.
    »Wie spät ist es?« fragte Lucy.
    »Noch keine halbe Stunde später, seit Sie das letztemal gefragt haben«, erwiderte O’Hanrahan nach einem Blick auf die Uhr. Ja, überzeugte O’Hanrahan sich selbst, in der Wildnis Afrikas an Cholera zu sterben, weit weg von Freunden und Familie, das ist immer noch besser, als noch einen einzigen gottverdammten Tag in Forest Park zu vertrödeln. Ich gebe gerne zu, daß Einsamkeit das einzige ist, was das Alter noch schlimmer macht – ein netter kleiner Zufall, denn das einzige, was Einsamkeit noch schlimmer macht, ist das Alter. Jemand in Lucys Alter oder auch jemand, der mit Frau und Familie lebt, kann das vielleicht nicht verstehen: wie ewig lange sich jeder Tag hinziehen kann, bevor man ihn abhaken kann. Man schläft auch nicht mehr soviel, das macht es noch schlimmer; man kann den Tag nicht einmal mehr mit Schlaf und Nachmittagsnickerchen verdösen. Schlaflosigkeit war die Plage meiner letzten zehn Jahre, so wie bei meinem Vater. Selbst die beschäftigten, die halbtags angestellten älteren Leute, die ich kenne, haben Probleme, die viele Zeit herumzubringen. Ich ha be gesehen, wie meine Kollegen die Zeit mit Kartenspielen totgeschlagen haben, Bridge-Sucht – Bridge ist eine gute Methode, die Jahre der Pensionierung zu verbringen –, Gartenarbeit ist gut oder Familienfotos sortieren, so daß die nächste Generation sie effizienter wegwerfen kann … Und dennoch. Alles, was mir geblieben war, der einzige wirkliche menschliche Kontakt, den man mir zugeteilt hatte, waren meine monatlichen Beratungsstunden für Doktoranden an der Universität. Diese Scheißkerle. Zuerst haben sie mich noch Vorlesungen halten lassen, dann haben sie meine Arbeit auf Doktorandenberatung und Gradu iertenseminare beschränkt, dann nur noch auf Beratung … Und das war kaum eine Rettung vom Trott meines Alltagslebens.
    Zum erstenmal seit Monaten dachte er zurück an Forest Park. Der Morgen. Wieder einmal wach, immer noch am Leben . Das Gewicht des ungelebten Ta ges lastete auf ihm. Sich waschen und zurechtma chen. Rasieren oder nicht rasieren? Das einzige, was ihn an manchen Tagen dazu brachte, sich zu rasieren und zu kämmen, war der grässliche Anblick weißer Bartstoppeln, dieses alten Penners aus dem billigen Vergnügungsviertel der Bowery, der ihn aus dem Spiegel anstarrte. Schau auf die Uhr. Großartig: 7.30 Uhr morgens. Noch schön früh am Tage. Die Nach richtenshows . Die beiden Moderatorinnen waren so niedlich, so munter, so frisc h und fröhlich und la chend: Zur Hölle m it euch allen beiden! Kaffee ko chen. Die Küche ein Alptraum; das Geschirr würde wahrscheinlich bis zu seinem Sterbetag ungespült bleiben. Er ging zum Essen aus oder aß tiefgefrorene Fertiggerichte, also waren Teller nicht wichtig. Was ihn dazu brachte, überhaupt noch etwas aufzuräumen, waren die Aschenbecher. Ständig überquellend voll. Am Tag denkt man nicht daran, sie auszuleeren und sauberzumachen, weil man die abgestandene, rauchgeschwängerte Luft gewöhnt ist, aber sie sind das erste, was einen am Morgen anstarrt; der Zigar rengestank im Haus eines alten, alten Mannes. Vielleicht eines betrunkenen Mannes – schau, da steht noch das halbvolle Whiskyglas. O’Hanrahan goss den Rest immer zurück in die Whiskyflasche, durch die er sich gerade hindurchtrank; bloß keine Verschwendung! Und jetzt kamen im Fernsehen nur noch Haus frauensendungen oder profitorientierte Gameshows, nichts Unterhaltsames. Fernseher aus. Gratuliere, es ist 9.30 Uhr vormittags.
    Er las. Ja, und zwar deutlich mehr als die meisten Leute. Aber er hatte Probleme mit Büchern. Während ein grässlicher Krimi im Fernsehen ihn eine Zeitlang fesseln konnte, funktionierte das selbst mit einem gut geschriebenen Thriller oft nicht, weil er das geschriebene Wort ernster nahm. Wenn er las, dann besser ein Buch, das wirklich seinen

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