Der dreizehnte Apostel
Intellekt beanspruchte. Literatur, Biographien, Geschichtswerke. Zeitgenössische Romanliteratur hatte er schon lange aufgegeben, weil alle aktuellen Produkte letztlich eine Werbung für die Überlegenheit der Klassiker waren.
Wie wär’s mit ein bisschen Bewegung?
Sechs Straßen weiter gab es ein kleines Ladengeschäft, Thomas and Roosevelt. Rund um die Uhr geöffnet. Sein menschlicher Kontakt Nummer eins: das lächelnde, übergewichtige schwarze Mädchen namens Zelda, das hinter der Kasse saß und ihn » Pro fessuh « nannte. Zeldas Familiennamen kannte er nicht, obwohl sie sich von diesen Gelegenheiten her seit – wie lange war es? Fünf Jahre? – kannten. Vor Zelda war Bob dagewesen, ein pickeliger Weißer, der an der Kasse furchtbar langsam war und zuviel Zeit damit verbrachte, Magazine über Motorradsport zu lesen. Eine Tasse Kaffee für 59 Cents. Und den Krapfen des Tages. O’Hanrahan, der Cappuccino in Rom getrunken hatte, Espresso in Paris, türkischen Kaffee mit gemahlenen Pistazienschalen zusammen mit muslimischen Imams in Bagdad, Café brûlot mit flegelhaften Loyola-Novizen in New Orleans … O’Hanrahans Hochgenuss in den letzten zehn Jahren war nichts Besseres als ein Dunkin’ Donut von gestern, jetzt im Sonderangebot für 45 Cents, und der Kaffee in dem kleinen Ladengeschäft. Und eine Zeitung. Er musste aufs Geld schauen. Wenn die Schlagzeilen uninteressant waren, kaufte er die Zeitung nicht – mittags kam schließlich Paul Harvey im Radio oder Peter Jennings mit den Abendnachrichten im Fernsehen, Kanal CNN – Gott, wenn ich bedenke, daß ich nichts von dieser Welt halte und der Meinung bin, daß dieses Land im Niedergang begriffen ist, gebe ich mir doch verdammt viel Mühe, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Alle nichtalkoholischen Einkäufe zusammen: 1 Dollar 13 inklusive Mehrwertsteuer. An Dienstagen und Samstagen kaufte O’Hanrahan hier eine Flasche von irgendeinem alkoholischen Getränk. Vor dem erniedrigenden Erlebnis mit dem Enthaarungsmittel und den mitleidigen Blicken des Drogisten hatte er Spirituosen zum Discountpreis im Drugstore gekauft, aber es kam nicht in Frage, daß er dort jetzt wieder auftauchte.
(Glaubst du wirklich, daß alle sich an diese eingebildete Demütigung erinnern?)
O ja, in der Tat, Drugstores machen ihr Geschäft mit Erniedrigungen, das ist ihr Job: Hier ist Ihre Pro statamedizin, etwas gegen Ihren Durchfall, die Windeln für Ihre Inkontinenz, Ma’am – die ganze Reihe von Mittelchen und Medikamenten, die uns verraten, an welchen körperlichen Zipperlein unsere älteren Kunden leiden, und die auf unserem kleinen Diagramm deutlich die Hinfälligkeit markieren, die schließlich zum Friedhof führt! Nein, ich werde dem Drogisten keinen weiteren Grund liefern, mich zu bemitleiden: Wie traurig, würde er klagen, wie tragisch, Dr. O’Hanrahan ist auch noch Alkoholiker …
(Nun, du bist einer.)
Egal. Kauf Alkohol nicht jeden Tag im selben Geschäft, sonst starren sie dich an, als wärst du ein Alkoholiker. Teil es lieber ein bisschen auf, dann ist n ie mand ganz sicher. Ich wollte nicht, daß Zelda mich für einen Alkoholiker hielt. Ganz ehrlich, Herr, ich bin gut ausgekommen mit einer Flasche Alkoholischem am Tag, oft mit viel weniger. Viele Trinker sind Selbstzerstörer, die sich jeden Abend bis zur Be wußtlosigkeit besaufen würden, wenn sie es sich leisten könnten, zwei oder drei Flaschen. Ich nicht. Ein Drink beim Essen, eine gleichmäßige, geregelte Menge über den Tag verteilt.
Was O’Hanrahan wirklich liebte, war die Nacht. Jetzt waren alle, die wie er um diese Zeit wach waren, in anderen Häusern oder auf dem Highway, genauso allein wie er. 3.13 Uhr morgens. Die Stunde der Einsamen. Aber diese Zeit nach drei Uhr war nicht ganz ohne Behagen, nicht ohne eine Spur von Verzaubert sein – so viel von der Nacht lag noch vor einem. Das Buch, das man gerade liest, ist um diese Stunde interessanter, die Filme im Fernsehen gehören einer verlorenen Vergangenheit an. Die Zeit nach vier Uhr hat etwas Verzweifeltes an sich – soll man sich noch einmal schlafen legen oder nicht? Und dann die fünfte und die sechste Stunde, wenn die Welt der Arbeiter erwacht, wenn auf der Eisenhower-Schnellstraße der Verkehr zu rumpeln beginnt und die ersten Flugzeuge auf dem Flughafen O’Hare landen – dann ist die Nacht vorbei. Patrick O’Hanrahan erledigte seine notwendigen Einkäufe nie untertags, wenn all die Idioten auf den Straßen herumfuhren – wie oft wäre es
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