Der dreizehnte Apostel
fast zu einem Unfall gekommen, weil er sich nicht lange auf den Straßenverkehr konzentrieren konnte. Er war nicht konfus, nein, nein, aber das Autofahren lastete sein Denken nie völlig aus. Das Schisma von Antiochien im späten 4. Jahrhundert! Die Intrigen des Tridentinischen Konzils! Das waren Dinge, die seine volle Aufmerksamkeit verdienten, aber nicht dieser blöde Vorstadtverkehr. Und um drei Uhr morgens ist auf jeden Fall kein Verkehr. Er konnte fahren, wie er wollte. Meistens fuhr er zu Dominik’s, einem Supermarkt, der vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte.
(In den Tagen, bevor man dir den Führerschein genommen hat.)
Ach, halt den Mund, lasse mich noch einmal diese nächtlichen Stunden der Freiheit und des Leichtsinns durchleben. Die Welt um 3.30 Uhr morgens entsprach meinem Altmännertempo, meiner Trübsinnigkeit, meiner Gedankenversunkenheit. Das schläfrige Personal sagte nichts, wenn ich Zeitschriften durchblätterte. Ich nahm mir Cosmopolitan oder Vogue, blätterte langsam die Seiten um, Bilder von Frauen, die zu jung und zu hübsch sind, um sie zu begehren, denn selbst für eine Phantasievorstellung hätte man ein wenig Erfahrung mit solchen Frauen haben müssen, um das wirklich im Bauch nachvollziehen zu können. Warum quäle ich mich? Warum sehe ich mir an, was ich nicht haben kann, nie gehabt habe, nie haben werde … Wozu dieses Ritual, diese Zeremonie, sich eine Dosis weiblicher Schönheit reinzuziehen, morgens um 3.45 Uhr, während der lateinamerikanische Junge mit dem breiten Besen die Gänge fegt und der schwarze Ex-Athlet an der Kasse im Stehen schläft. Ich bin ganz in meinem Element. Sie wollen wissen, wie viele einsame Menschen es in dieser Gesellschaft gibt? Schauen Sie sich im November die Tiefkühltruhen der Supermärkte an, und beobachten Sie, was kurz vor dem Thanksgiving Day mit den Bergen von kalorienarmen Truthahngerichten, Weightwatchers oder Lean Cuisine, passiert. Schauen Sie, wie viele Amerikaner den Tag allein mit einem tiefgefrorenen Fertiggericht aus der Mikrowelle begehen anstatt mit ihrer Familie. Jedesmal vor dem Thanksgiving Day habe ich mir geschworen, mir Lasagne oder Nudeln zu kaufen – alles, bloß keinen Truthahn … aber dann wurde ich jedesmal wieder schwach und nahm mir Swanson’s Turkey Dinner. Wie unerträglich diese einsame Mahlzeit war, wie schwer es fiel, das Zeug zu schlucken, das einen daran erinnerte, wie früher der Tisch mit Kerzen geschmückt war und wie Beatrice den Truthahn hereinbrachte. Und Rudy, der nicht genug von der Preiselbeerensoße aus der Dose bekommen konnte. Aber verlassen wir nun den Supermarkt, begeben wir uns zurück auf die nächtliche Straße.
Stundenlang herumfahren. Wunderb ar, diese Stun den im Auto. Zuerst ins Geschäftsviertel, dann hinaus zum Flughafen, manchmal die Mautstraße bis nach Indiana und auf der Hochstraße wieder zurück; ein Lächeln und eine kurze Unterhaltung mit den Kassierern an den Mautstellen – die Säulenheiligen unserer Tage! Sie müssen wahre Philosophen sein, die die ganze Nacht über wach sind, während Amerika an ihnen vorbeisaust; wie weise müssen sie werden, während sie den nächtlichen danse macabre der Menschen beobachten, die mit gedrosselter Geschwindigkeit an ihnen vorbeifahren, eine unfreiwillige Parodie auf das Amerika des hellichten Tages. Und bei einer solchen Spritztour hat mich so ein rich tiger Faschist angehalten.
Wo fahren Sie hin, Opa? Wo wohnen Sie? Haben Sie getrunken? Gut, mein Atem roch vielleicht so, aber ich hatte seit Stunden nichts getrunken – noch so ein Nachteil, wenn man alt ist. Man nahm mir den Führerschein, und ich habe mich nie darum bemüht, ihn wieder zurückzubekommen. Und dann dieser demütigende Besuch von einer Sozialarbeiterin, die mir Ratschläge erteilen wollte: »Denken Sie manchmal an Selbstmord, Mr. O’Hanrahan?«
Nein, Schätzchen, aber manchmal habe ich Lust, andere zu ermorden – hier in dieser Stadt, die normale Leute nicht in Ruhe lässt , aber Verbrechern das Handwerk nicht legen kann.
(Und wenn du eines Tages wirklich betrunken gefahren wärest und jemanden überfahren hättest?)
Danke für den Hinweis. Vermutlich bist Du jetzt zufrieden, Herr, nur noch ich und die Uhr sind da.
3.30 Uhr, 3.45 Uhr, 3.58 Uhr … und noch einmal ein Blick: verdammt, ist es immer noch nicht vier Uhr? Zigaretten, immer wieder gelesene Bücher, Whisky, der herzerfrischend verbiesterte ältere Diskjockey im Radio, der Big Bands auflegte. Ich dachte, so
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