Der dreizehnte Apostel
waren wie Medizin für ihn. Lucy war in sich gespalten, ob sie den Tod seines Sohnes erwähnen sollte oder nicht. Sie hätte, aus Mitgefühl, gern mehr darüber gewusst und O’Hanrahan ihr Bedauern ausgedrückt, aber ein anderer Teil in ihr wollte, daß O’Hanrahan unverwundbar blieb – schon zuviel war passiert, das ihren Mentor, ihr Idol, ihren Moses in der Wüste, verletzlich und fehlbar gemacht hatte. Einen Augenblick lang sehnte sie sich zurück nach ihrer ungleichen Beziehung in Irland: er, der Große, gegen sie, das bedeutungslose Nichts. Es hatte schließlich doch etwas Tröstliches gehabt, als er noch wie Jupiter über den Ereignissen schwebte.
(Meinst du nicht, es wäre besser, Trost zu schenken, wo du nur kannst?)
Sie seufzte. Und bevor sie die Worte zurücknehmen konnte, sprudelte sie schon hervor: »Es tut mir leid.«
»Hm?«
Lucy sah hinaus auf die schäbige Barackensied lung , an der sie vorbeifuhren; auf die offenen Kloaken, aus denen braunes Schmutzwasser gurgelte auf die Hähne, die den Morgen ankrähten. »Es tut mir leid, was Ihrem Sohn passiert ist.«
Oh, dachte O’Hanrahan. Die McCalls oder wahrscheinlich der Rabbi haben ihre Neugier gestillt. »Ja, das tut mir auch leid.«
»Ich meine, es gibt nichts, was ich Ihnen sagen könnte …«
»Ich schätze es«, erwiderte er automatisch, »daß Sie überhaupt etwas gesagt haben. Natürlich ist das alles schon lange her«, fügte er hinzu und fragte sich, warum.
»Aber es muss Sie ja daran erinnern, wenn Sie jetzt in dieses Flugzeug steigen.«
O’Hanrahan nickte und spürte wieder mit voller Wucht die alte Trauer, den lebenslangen Schmerz. Ab einem gewissen Punkt sollte es ein Moratorium für Anteilnahme geben – die ersten sechs Monate nach dem Begräbnis, okay. Aber danach – warum das Ganze wieder aufrühren?
(Aber Patrick, das ist alles, was die Menschheit hat. Wenn alle voll Anteilnahme wären, könnte die Welt morgen von den größten Qualen und dem größten Leid gerettet werden.)
Das ist wahr. Und es hatte Leute gegeben, Männer, die er an den Fachbereich berufen und denen er ein Amt gegeben hatte; Frauen in der Verwaltung, die Hunderte von Briefen für ihn getippt hatten, die ihm ihre Weihnachtsgratifikationen verdankten – und sie hatten kein Wort zu ihm gesagt, keine Karte geschickt, einfach den Kopf von seinem zweifachen Trauerfall abgewandt. Mich fliehen nun, die Umgang mit mir pflegten; selbst die ich liebte, sind mir feind gesinnt. »Er war ein guter Junge. Rudolph, meine ich«, sagte O’Hanrahan schließlich.
»Rudolph«, wiederholte Lucy den Namen.
»Rudy haben wir ihn genannt. Sie hätten ihn gemocht, Luce.«
In der Hoffnung, die Stimmung aufzuheitern, schlug sie einen flirtenden Ton an. »Hat er gut ausgesehen?«
»Vielleicht mein persönlicher Geschmack, aber ich würde sagen, ja«, murmelte er. Er zog seine Brieftasche heraus. Tief versteckt in ihren Fächern war ein Foto, das Foto, das Gabriel gesehen haben musste . O’Hanrahan hielt es hoch und sah es an, aber nicht sehr nahe; er blickte dem Jungen auf dem Foto nicht in die Augen. Lucy nahm das Bild vorsichtig in die Hand.
Tatsächlich, dachte sie, Gabriel sah diesem Rudolph ein wenig ähnlich. Vielleicht war es aber auch hauptsächlich der mönchische Haarschnitt.
Es war ein Foto aus der High-School-Zeit, aus dem Jahrbuch der Schule Anfang der 70er. Eine Cordjacke mit breiten Revers, eine breite braune Krawatte, zuviel Haar.
Ganz unpassend zu dem vergilbenden Foto und dem blassen, ernsten Gesicht, das sie anstarrte – vielleicht hatte er sich nicht gerne fotografieren lassen –, rasselte O’Hanrahan gekünstelt-fröhliche Sprüche herunter: »Vielleicht nicht sehr athletisch, aber er hat eben die ganze Zeit gelesen. Er war ein Gelehrtentyp, so wie sein alter Herr. Ich vermisse die Gespräche – ich meine, wir haben immer … ich vermisse die langen Gespräche, die wir immer hatten. Er hätte wahrscheinlich eine akademische Laufbahn eingeschlagen, gegen meine strengsten Warnungen.«
»Welches Fachgebiet?«
»Theologie natürlich.« O’Hanrahan Schloss die Augen und kämpfte gegen seine Übelkeit an. Woher kam ihm bloß dieser Blödsinn? »Er war ein richtiger Frauenheld«, hörte er sich sagen. »Ich glaube, Sie hätten auf sich achtgeben müssen, Schwester Lucy.«
»Ich war in der High-School ein absolutes Nichts«, sagte sie und gab ihm das Foto zurück. »Er wäre mir sicher aus dem Weg gegangen.«
»Oh, das bezweifle ich. Sie erinnern mich
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