Der dreizehnte Apostel
diese Worte nicht einmal erwidern, nicht wahr, Patrick?)
»Ja«, sagte er und wischte sich keuchend über die Stirn. Ah, die gefürchteten Worte! Der magische, mystische Name Gottes, den er sich auszusprechen fürchtete! Was er in zwanzig Jahren Ehe oder achtzehn Jahren als Vater nicht hatte sagen können, was er nicht zu Schwester, nicht zu Vater und Mutter, nicht zu irgendeinem Freund oder Kollegen hatte sagen können – Lucy hatte es gesagt, so schlicht und würdevoll. Rrrummms … Polternd und holpernd berührte das Flugzeug den Boden, hob sich noch einmal ein wenig, prallte mit einem noch lauteren Knall auf, und allen im Flugzeug, die mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hatten, kam der Gedanke, daß es vielleicht doch noch eine Überlebenschance gab.
Jetzt waren alle Passagiere in einer betäubten Erwartung vereint: Wird das Flugzeug zerbersten oder umkippen und auf den Rücken krachen, oder wird es einfach langsamer werden und uns das Leben wieder schenken? Ruckartig verlangsamte sich das Tempo; O’Hanrahan beugte sich zum Fenster und sah einen Graben, der parallel zum Weg des Flugzeugs verlief. Sie landeten auf einer Schotterstraße. Langsamer und immer langsamer … Und schließlich kam das Flugzeug zum Stehen. Der Pilot und der Copilot tauchten lächelnd in der Tür des Cockpits auf; ein Mann, der vorne saß, kniete vor ihnen nieder und küsste ihnen die Hände. Nicht nötig, nicht nötig, scheuchte der Pilot ihn fort. Auf Arabisch erklärte er, man müsse einen Reparaturwagen aus Bahir Dar kommen lassen, dann würden sie wieder starten und nach Addis Abeba weiterfliegen. Er sagte das so beiläufig, daß O’Hanrahan sich einen Augenblick verwirrt fragte, ob sie wirklich in ernsthaften Schwierigkeiten gewesen seien. War das bei dieser Fluglinie ein gewöhnliches Vorkommnis? »Sie haben gedacht, wir würden sterben, wie?« fragte der muntere, rundgesichtige Gentleman von der anderen Gangseite in melodischem, westafrikanischem Englisch.
»Ja.«
»Ah, meine Tochter wird nächste Woche heiraten, und man hat mir geweissagt, daß ich an ihrer Seite sein werde. Also konnten wir gar nicht sterben.«
»Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst «, meinte O’Hanrahan, der wieder ruhiger atmete.
»Nein, nein«, sagte der Mann fröhlich und holte eine Tasche von der Gepäckablage. »Gar kein Zweifel möglich.«
Lucy ließ sich in den Sessel zurückfallen und senkte erschöpft den Kopf.
O’Hanrahan ließ ihre Hand wieder los. Er war etwas verwirrt und dann beschämt, daß er ihr als womöglich letzte Geste nicht hatte sagen können, daß auch er sie liebe. Ich bin innen aus Stein, dachte er ehrlich, ich bin wie eine Wüste.
(Und ich nehme dein steinernes Herz und gebe dir ein Herz aus Fleisch und Blut.)
»Alles in Ordnung, Luce?« fragte er, immer noch mitgenommen.
Sie nickte.
Die meisten Passagiere gingen schon zur Tür, um den harmlosen Sprung ins Freie zu wagen. Man küsste den Boden und pries die Erde, streckte die Arme gen Himmel und lobte Allah, den Wunderbaren, den Gepriesenen, den Wahren, den Bezwinger, den Ewigen, den Unvergleichlichen – alle neunundneunzig heiligen Namen. »Ist er nicht ein guter Gott?« riefen die Leute laut.
(Nun, Patrick, was sagst du?)
»Ich sage Ihnen«, erklärte er Lucy, »wir steigen nicht mehr in dieses Flugzeug. Keine Überraschungen mehr. Wir sind in Äthiopien, und wir können uns von hier nach Gondar mitnehmen lassen und
dann mit dem Bus nach Addis fahren.«
»Aber vielleicht sollten wir …«
»Keine Flüge mehr«, befahl O’Hanrahan.
»Okay, nur einen Augenblick«, bat Lucy. »Ich muss noch ein wenig sitzen bleiben und … ich fühle mich schwach.« Mit zitternden Händen wühlte sie in ihrer Tasche nach der Wasserflasche und nahm einen langen Schluck. Sie sah O’Hanrahan nach, der nach vorne ging und sich von mehreren Sudanesen dabei helfen ließ, seine massige Gestalt auf die Schotterstraße hinuntergleiten zu lassen. Bewusst tief und rhythmisch atmend, Schloss Lucy die Augen. Sie fühlte Frieden.
Ich weiß, Heiliger Geist, was du vorhattest, betete sie.
(Ja, Mein Kind?)
Vor einem Augenblick konnte ich nur noch den Tod und das Ende aller Dinge vor mir sehen. Jetzt bin ich am Leben, und meine Zukunft ist mir zurückgegeben worden. Was für eine geringe Last ist es jetzt, ob ein Kind Teil dieser Zukunft ist oder nicht. Wie glücklich sollte ich sein, es zu gebären und ihm das Leben zu schenken!
(Du weißt, daß Wir immer bei dir sind.)
Also
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