Der dreizehnte Apostel
dann verliert eine Frau ein Kind, und man sieht sie weinen. Innerlich, emotional, sind sie noch lebendig.« Die Schwester wandte den Blick von Lucy ab und sagte: »In der östlichen Zeltstadt gibt’s eine Frau, die heute Morgen ihr siebtes Kind verloren hat. Stellen Sie sich das vor!«
Lucy beobachtete die nächste Gruppe von Flüchtlingen, die am Zelt vorbeizog. Sie war verstimmt, daß O’Hanrahan sie hier abgeladen hatte, damit sie nach dem erlittenen Schock ein wohlverdientes Schläfchen hielt, ohne zu hinterlassen, wo er war. Sie ging in die Richtung, in der sie die Verwaltung des Lagers vermutete – und wohl auch O’Hanrahan. Als Hauptquartier diente eine verlassene Tankstelle, die schon lange keine Tanksäulen mehr hatte. Wo früher eine große Glasscheibe gewesen war, hingen nun Segel tuchbahnen . Eine Traube äthiopischer Helfer wartete mit einer Reihe von Problemen vor der Tür, stumm und geduldig, unmenschlich ruhig … Oder ist es vielleicht eine tiefere, eine philosophische Geduld, die ihren Ursprung in Afrika selbst hat? Lucy fragte sich, ob sie sich ebenfalls in diese Schlange einreihen sollte, dachte dann aber, es könnte Tage dauern, bis alle die-se Menschen bekommen hätten, was sie brauchten.
Schüchtern steckte Lucy den Kopf durch die Tür in das überraschend saubere Büro nahe dem Eingang. »Ist jemand da, der Englisch spricht?« fragte sie.
Eine Helferin bejahte, führte Lucy zurück auf die Straße und sagte ihr, sie solle ins Dorf gehen und das Steingebäude mit der Aufschrift Scuola suchen, ein Schulgebäude aus der kurzen Phase der italienischen Kolonialherrschaft in den dreißiger Jahren. Nur dort gab es funktionierende Telefone, und dort würde sicher auch O’Hanrahan sein. Lucy wich zwei knurrenden wilden Hunden aus, die nach kurzem Gekläff das Interesse an ihr verloren. Sie watete durch die schlammigen Spurrillen über die Straße zu dem Verwaltungsgebäude. »Lucy, hierher!« rief O’Hanrahan.
Er saß im hinteren Teil eines großen Lagerraumes, der früher ein Vortragssaal gewesen war und in dem jetzt die Verwaltung des Lagers untergebracht war. Zwei schwarze Telefone, vor denen jeweils ein paar Menschen warteten, standen auf einem Tisch, und ein Polizist horchte gerade an einem der Apparate; an der anderen Wand war sogar ein Funkgerät, in das ein Arzt gerade hineinbrüllte. Offenbar wurde er am anderen Ende der Leitung nicht verstanden.
O’Hanrahan, frisch und munter, einen Pappbecher mit etwas Trinkbarem in der Hand, winkte sie an seinen Tisch.
»Sie haben es wirklich geschafft, sich hier draußen einen Cocktail zu organisieren?«
»Das Zeug ist nicht mal so schlecht«, sagte er und sah auf die bräunliche Mischung in seinem Becher. Sein Ton legte nahe, daß es so schlecht war. »Das ist swa. Aus gegorenem Brot. Ein erfinderisches Volk, diese Tigray.« Ein Polizist in der Nähe blickte kurz auf, als O’Hanrahan den Namen der verbotenen Re bellenfraktion erwähnte. »Wollen Sie einen Schluck?«
»Nein, danke.«
»Ich habe die US-Botschaft in Addis angerufen, und die Leute waren ganz erleichtert, daß wir noch leben. Sie schicken jemanden aus der Hauptstadt her, der uns holen wird. Mit dem Auto, Gott sei Dank.« Lucy bemerkte einen älteren Priester, der in irgendeiner Sprache etwas vor sich hinmurmelte. Abba Sela ma . Lucy betrachtete sein außergewöhnliches Gesicht. Die Augen und der graue Bart ließen auf höheres Alter schließen, dennoch wirkte sein Gesicht mit den majestätisch hohen Wangenknochen jung.
»Abba Selama war so freundlich, von Debra Istafanos hierherzukommen, um für mich zu bürgen«, erklärte O’Hanrahan. »Die Polizei hier meint nämlich, es sei besser, wenn Wir uns nicht von hier fortbewegten, bis die Leute von der Botschaft ankommen. Wir sind knapp einer Verhaftung entgangen. Jeder, der so hereinschneit wie wir, wird für einen Spion gehalten, und Spione können ohne Prozess erschossen werden.«
»Sie verstehen sich darauf, mir ein Gefühl der Sicherheit zu geben, Sir.« O’Hanrahan zitterte unkontrollierbar. Lucy befürchtete einen Krampfanfall. »Alles in Ordnung?«
»Das ist dieser swa, Luce. Brrr, das Zeug ist ein Gebräu! Wollen sie wirklich nicht probieren? Einen kleinen Schluck?«
»Nein, danke«, lehnte Lucy kurz angebunden ab. Der Priester wandte sich Lucy zu, legte kurz die Hand aufs Herz, nahm höflich lächelnd Lucys Hand und führte dann seine Hand wieder an seine Brust.
»Betrachten Sie sich als gesegnet, Miss Dantan.«
Weitere Kostenlose Bücher