Der dreizehnte Apostel
Absatz herum, damit sie ihm ihre Vorwürfe ins Gesicht schleudern konnte: »Sie spielen nur ein bisschen herum. Sie stehen neben den Leuten, die etwas tun, und lassen sich mit ihnen fotografieren, aber Sie selbst machen nichts …« Beschämt legte O’Hanrahan ihr tröstend die Hand auf den Arm. »Lassen Sie mich
los!«
»Ich will nur, daß Sie mir zuhören …«
Aber Lucy trat schnell in ihr Zimmer und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Den Tränen nahe, sah sie in den Spiegel auf ihr erhitztes Gesicht, was ihre Wut noch steigerte. Sie schlich sich zurück an die Tür und hörte O’Hanrahan, der noch draußen stand. Sie Schloss ab. Sie war bereit gewesen, sich für ihn in Gefahr zu begeben, für diesen Mann, der sie anlog und bestahl, der sie benutzte, wie es ihm passte , nur um sich von seiner … von seiner eigenen Sterblichkeit abzulenken. Lucy lehnte sich gegen die Tür und hörte, wie der Professor zu seinem Zimmer ging, aufsperrte und sich leise zurückzog. Ich hoffe, er ist von sich selbst enttäuscht, dachte sie. Es ist mir egal, wenn ich ihn verletzt habe.
Sie warf sich aufs Bett. Wie immer war sie allein. Patrick O’Hanrahan war nie ein wirklicher Verbündeter gewesen. Sie war nur Teil seines Lebenstraums, er hatte sie für eine kurze Strecke auf seiner Fahrt mitgenommen. Eine Weile hatte es so ausgesehen, als ob es auch ihr Traum sein könne, aber jetzt war das vorbei. Und David McCall. Wieviel Hoffnung hatte sie in ihn gesetzt – was für ein Gebäude, Petersdom, Pyramiden und heilige Grabeskirche in einem, hatte sie auf dem wenigen errichtet, das sie über ihn wusste ! Wie so oft in meinem Leben habe ich nur gesehen, was ich sehen wollte, nur gehört, was ich hören wollte. Was für eine Närrin bin ich, wie kolossal stehe ich mir immer selbst im Weg. Noch ein Grund mehr, warum ich in diesen Flüchtlingslagern bei Gondar sein und Essen verteilen sollte; tun sollte, was ich kann, für diese Leute, deren Bedürfnisse so qualvoll ins Auge springen – ich, die Frau, deren Leben für sonst niemanden wichtig ist.
Draußen auf der Straße, zehn Stockwerke tiefer, hörte sie Gewehrfeuer. Neugierig trat sie ans Fenster. Nur noch wenige Straßenlaternen funktionierten, daher konnte sie kaum etwas erkennen, nur ein paar zerlumpte Menschen, die in Gruppen auseinanderstoben. Ein Lastwagen, mit Obst beladen, fuhr vorbei, dann folgte ein zweiter, auf dessen Ladefläche mehr Menschen standen, als sie es je für möglich gehalten hätte, zahllose magere Arme und Beine, durchgeschüttelt bei der Fahrt über den aufgerissenen Asphalt der einst prächtigen Stadt. Addis Abeba, in den sechziger Jahren das Prunkstück des neuen Afrika, Geburtsort der OAS und Edelstein in der Krone des schwarzen Nationalismus und der Unabhängigkeit Afrikas. Und heute? Ein von der Sowjetunion abhängiger Staat, überschwemmt von Terror und Gewalt, voller betrunkener Kubaner, die nach acht Uhr abends zum Spaß Fensterscheiben zerschossen, weil sie Heimweh nach Havanna hatten. Lucy legte sich zurück aufs Bett: Die Welt ist ein schrecklicher Ort.
ADDIS ABEBA
26. August 1996
Lucy wachte auf und dankte kurz für dieses moderne, luxuriöse und saubere Bett im Hilton, dieser Insel der westlichen Welt. Langsam kroch das Elend ihres alten Lebens wieder in ihr hoch. Im Stich gelassen von O’Hanrahan. Schwanger. Doktorarbeit fällig. Eltern, die bereit sind, mich umzubringen, weil ich ein eigenes Leben führe. Ich brauche einen Bundesgenossen, dachte sie kalt. Ich rufe Rabbi Hersch an und frage ihn, ob er mir einen Rat geben kann – ich werde ihm alles sagen. Vielleicht gibt es immer noch eine Möglichkeit, daß ich dieses Kind in Jerusalem bekommen kann, abgeschirmt vor den Augen der Welt. Lucy wählte die Nummer der Rezeption. »Kann ich ins Ausland telefonieren?« fragte sie die Empfangsdame, die den Hörer abhob. »Nach Israel, aber ich weiß die Nummer nicht.«
Sie bekam die Auskunft, sie müsse nach unten zu den Telefonzellen kommen.
Lucy nahm den Schlüssel von ihrem Nachtkä st chen . Leise Schloss sie die Tür auf und spähte hinaus auf den Gang. Verstohlen schlich sie hinaus und verschloss leise die Tür. O’Hanrahan sollte sie nicht hören. Die Dame an der Rezeption begrüßte sie mit einem Lächeln. Es war 10.30 Uhr vormittags, die wenigen Gäste waren im Frühstücksraum, tranken Kaffee und bedienten sich von Bergen von Croissants. »Ich habe Sie gefragt, ob ich ins Ausland telefonieren kann«, sagte Lucy. Die
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