Der dreizehnte Apostel
das Matthäusevangelium unverfälscht und ungereinigt veröffentlichen würden. Er dachte, in diesem letzten Kapitel seien Beweise dafür, daß Jesus … daß Jesus nur ein irregeleiteter Narr war und seine Apostel zwielichtige Komplizen. Und er wollte nicht riskieren, daß dieses letzte Kapitel vernichtet werden würde.«
»Ach, das glauben Sie also?« schnaubte der Rabbi.
»Ist das nicht der Grund, warum Israel sich solche Mühe gemacht hat, um an diese Schriftrolle zu kommen? Weil sie die Information enthält, die die Juden brauchen, um in ihrem seit zweitausend Jahren währenden Streit den entscheidenden Schlag führen zu können: daß Jesus ein Schwindler war.«
»Sind Sie fertig mit Ihrer Rede, kleines Mädchen? Kann ich jetzt etwas sagen?«
Lucy brannte das Gesicht nach diesem Ausbruch, der eher emotional als rational war. Solidarisch stellte sie sich neben Dr. O’Hanrahan. Beide waren überrascht, als der Rabbi sie anbrüllte: »Ihr Heuchler! Du, Paddy, mit deinem Größenwahn! Titelseite des Time Magazine, Titelseite der New York Times, Geld und einen neuen Posten – hast du dich in Jerusalem reden hören? Nicht nur in Jerusalem. Seit wir uns kennen, war das Matthäusevangelium dein großes Los. Es sollte der Ausgleich für alles sein, was in deinem Leben schiefgelaufen ist. Das Allheilmittel, der Stein der Weisen!«
Der Rabbi ging erregt auf und ab und stürzte sich nun auf Lucy: »Und Sie, kleines Mädchen. Haben Sie sich selbst reden hören im Hotel König David, ein Bagel im Mund? Princeton, Harvard, Columbia – welches der tollen Angebote, die man Ihnen machen würde, sollten Sie sich aussuchen? O ja, diese Schriftrolle hat für Sie bedeutet, die Welt kennenzulernen, eine Kreuzfahrt nach Griechenland, ein paar neue hübsche Klamotten kaufen, die Doktorarbeit loswerden, die Sie gehasst haben. Denkt einmal darüber nach, alle beide! Nicht ein einziges Mal habt ihr daran gedacht, welche Folgen diese Schriftrolle nach sich ziehen könnte! Nicht einmal! Lucy und O’Hanrahan schwiegen.
»Es war euch egal, ob dieses Evangelium einen Krieg heraufbeschwören könnte. Es war euch egal, ob dieses Evangelium den Glauben von Millionen Menschen erschüttern könnte. Ich habe nie ein Wörtchen gehört, daß ihr euch so etwas überlegt habt. Und du, Paddy, hast dich danach gesehnt, daß es einschlagen könnte wie eine Bombe. Du warst geradezu entzückt über die Möglichkeit, daß du den Vatikan demontieren und alle Hausfrauen in Amerika in helle Aufregung versetzen könntest – du hast darum gebetet, daß dieses Evangelium dem Christentum einen ordentlichen Tritt versetzen möge.«
Der Rabbi wurde leiser. »Es tut mir leid, daß ich dieses Buch Nicht der Messias geschrieben habe. Ich war der Gaben, die Gott mir anvertraut hat, nicht würdig. Sie glauben mir nicht, kleines Mädchen, obwohl ich ehrlich mit Ihnen geredet habe. Aber ich kümmere mich nicht mehr darum, was Sie denken. Ich kann Ihnen nur sagen«, der Rabbi setzte sich aufs Bett, auch ihm war die Anspannung der letzten Wochen anzumerken, »daß ich die ganze Zeit an Gott denke. Wenn ich morgens aufwache – du magst dich über mich lustig machen, Paddy –, preise ich den Tag und danke, daß ich ihn erleben darf. Und wenn ich mich schlafen lege, bete ich – Gott ist mein letzter Gedanke. Und den ganzen Tag über denke ich an Gott. Ich mache mir ein Sandwich. Ich trage den Müll hinaus. Ich mache das Bett. Und immer denke ich an Gott.«
Lucy wünschte nun, sie hätte nichts gesagt. Sie wollte irgendetwas zu ihrer Entschuldigung vorbringen, aber es war unmöglich. Denn auch sie war einmal so gewesen.
»Aber so bin ich eben«, fuhr der Rabbi fort. »Und je älter ich werde, desto deutlicher sehe ich die Welt als große Herausforderung, vor die Gott uns gestellt hat. Moslems, Juden und Christen, die alle den Gott Abrahams anbeten. Wenn wir uns in einem Krieg nach dem anderen gegenseitig umbringen, dann wird Gott Schluss mit uns machen! Wenn wir lernen, einander zu lieben und zu respektieren, dann werden wir Seiner Welt würdig sein, vorher nicht. Und deswegen habe ich dieses letzte Kapitel zurückgehalten. Weil es vielleicht den ganzen Äppelkahn zum Ken tern bringen würde, versteht ihr?«
Rabbi Hersch sah Lucy an – müde, aber durchdringend und fest wie immer. »Weil ich Ihnen das nicht antun würde, kleines Mädchen. Die blutenden, unbefleckten heiligen Wunden an Marias kleinem Zeh – ich bin der Meinung, daß eine Menge von eurer Religion
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