Der dreizehnte Apostel
circa hundert jungen Leu ten, an jedem Faschingsdienstag mit dem Bus in die Bourbon Street gefahren wurden – als Bestimmungsort stand »Himmel« auf dem Busschild –, um Flugschriften für Gott zu verteilen, vor den Schwulenbars und Oben-ohne-Kneipen Posten zu beziehen und mit ihren Predigten durch das Megaphon den ausgelassenen Lärm zu übertönen. » Bringt das etwas?« fragte Lucy.
»Ich glaube zumindest, daß die jungen Leute, die daran teilnehmen«, sagte er, als sei er selber so viel älter, »wirklich an dieser Erfahrung wachsen.« Typisch, dachte Lucy. Es geht eigentlich weniger darum, die Feiernden zu »retten«, als darum, diesem selbstzufriedenen Haufen Jugendlicher, der den Par tygängern Strafpredigten hält, eine »Erfahrung« zu verschaffen. Ja, überlegte sie, wie von Stolz geschwellt müssen sie sein, wenn die Schwulenpärchen zurückschreien, wenn die Sünder sie verhöhnen, wenn die Oben-ohne-Tänzerin sie zum Teufel wünscht – wie erhöht und erhaben fühlen sie sich bei ihrem Martyrium. Katholiken, dachte Lucy, halten diese lasterhafte Martyriumssucht zu Hause in der Familie hinter geschlossenen Türen, wo sie hingehört
– die Pfingstgemeinde trägt es hinaus auf die Straße. Lucy war neugierig auf die Geographie Louisianas. Sie machte das Handschuhfach auf, schob eine Bibel beiseite – »Die ist für Daddy, wenn er einen Hausbesuch machen muss «, sagte Farley – und schlug auf einer zerfledderten Texaco-Straßenkarte von 1981 Philadelphia auf. Farley deutete mittlerweile auf eine Straße am Rand von Philadelphia, Louisiana, die nach Flora Hicks Johnson Pratt benannt war, eine der ersten Gebetspartnerinnen, die für die TPL Ministries gespendet hatte. Das alte Mädchen hatte Reverend Bullins ihren gesamten Besitz hinterlassen, und die Stadtväter beschlossen, eine heruntergekommene
Straße, die aus nahezu abbruchreifen Häusern be stand, nach ihr zu benennen. Momentan gab es gerade einen Wirbel zwischen dem einzigen Schwarzen im Stadtrat – obwohl Philadelphias Einwohner zu 60 Prozent Schwarze waren – und der Stadt, ob man eine Straße nach Martin Luther King benennen sollte.
»Als nächstes sehen wir uns das New Life Cove nant Center an«, kündigte Farley an, in seiner Rolle als Fremdenführer ganz in seinem Element. Eine Stunde lang konnte Lucy sich nicht dazu aufraffen, höflich danach zu fragen, wozu dieses Center eigentlich diene. Statt dessen amüsierte sie sich damit, an O’Hanrahan zu denken, der im Augenblick in der Bibliothek des TPL Bibel-College saß und mit den dort von Reverend Bullins gesammelten unwissenschaftlichen Mitteln versuchte, das Matthäusevangelium zu entziffern. Sie konnte es kaum erwarten, seinen Kommentar zu hören. Auf dem Flug von Äthiopien hierher hatten sie und ihr Mentor zusammen mit dem Bullins-Clan in der ersten Klasse gesessen, zwei Sitze weiter vorn, so daß sie für sich waren. O’Hanrahan, der versuchte, seine Flugangst zu überspielen, hatte eine Serviette auseinandergefaltet und eine Kneipentour durch New Orleans aufgezeichnet, durch Austernrestaurants und piekfeine Hotels, durch kleine Spelunken und alte Jazzkneipen. Er versicherte Lucy, die Luxustour mit ihr zu machen, einschließlich eines Abstechers zu einer kleinen Kirche im Osten von New Orleans, in der noch illegal Absinth gebrannt wurde …
Aber daraus würde wohl nichts werden. Bisher waren Lucy und der Professor Gefangene der Bullins gewesen, beschränkt auf das luxuriöse große Haus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg auf dem Campus des TPL Bibel-Colleges und immer umgeben von frischen, jungen, kurzhaarigen typischen Amerikanern und jungfräulichen, hübschen jungen Frauen, die an jedem Schönheitswettbewerb hätten teilnehmen können; alle mit auffälligen TPL-Kreuzen an hübschen Goldkettchen. Am Abend zuvor hatte O’Hanrahan Stunden mit dem Versuch zugebracht, Rabbi Hersch zu Hause anzurufen, und endlich, um halb zwei Uhr morgens, hatte der Rabbi abgehoben. Er war wieder heil und gesund in Jerusalem. Das Betäubungsmittel hatte nur eine Nacht lang gewirkt, und der Rabbi war am nächsten Morgen vom Reinigungspersonal des Hotels geweckt worden. Dann war er zurück nach Israel geflogen, hatte dem Mossad alles berichtet, was er wusste , und die Zusicherung erhalten, daß Der Flug des Adlers und die Operation Entrückung und der ganze andere Mumpitz bald untersucht und hoffentlich gestoppt würden. Der Rabbi versprach, sobald es ihm möglich sei, nach New Orleans zu fliegen
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