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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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gewickelten Dose, eine übergewichtige Großmutter ging nervös auf und ab. Alle warteten darauf, etwas von einem Kranken zu hören.
    »Zu Patrick O’Hanrahan, bitte«, sagte Lucy an der Information. Man sagte ihr, sie könne ihn ohne Begleitung besuchen, solle ihn aber nicht anstrengen. Zimmer 923. Oh, wie sie sich fürchtete. Vielleicht hatte der alte Mann nun seine Karten ausgespielt. Sie spürte, wie sie flacher atmete, als sie die Türklinke niederdrückte.
    »Die Geier kreisen«, knurrte O’Hanrahan, der zu Lucys Erleichterung nicht allzu schlecht aussah, wenn auch die Haut gelblich war und die Augen blutunterlaufen. Sein Bauch jedoch war grotesk angeschwollen.

»Hallo, Sir«, sagte sie schüchtern, bevor sie wieder weniger förmlich redete. »Sie sehen …«
    »Völlig fertig sehe ich aus, lügen Sie mir nichts vor. Foul Play, fürchte ich, Schwester Lucy. Die vergiften mich, damit sie mit der Schriftrolle abhauen können.«
    Auf dem Rolltisch neben seinem Bett lagen die Fotos des Matthiasevangeliums und mehrere leere Notizblöcke. O’Hanrahan fing an zu kritzeln: Das Zimmer wird vielleicht abgehört. Und dann: Ich habe das Evangelium enträtselt!
    »Sie …« Lucy bremste ihre Begeisterung. »Sind Sie sicher?« flüsterte sie. O’Hanrahan nickte. Ja, er sah krank aus, aber in seinen Augen leuchtete Triumph!
    »Hepatitis A, sagen die Ärzte«, flüsterte er Lucy zu.
    »Kann man überleben. Aber wir müssen rund um die Uhr arbeiten, um diese Sache abzuschließen, falls ich …« Lucy vollendete den Satz nicht.
    »Ich werde es nicht zulassen, daß dieser Bestseller von einem Evangelium posthum herausgegeben wird. Schiere Bosheit und schierer Geiz werden mich
    am Leben halten.«
    (Diese Eigenschaften hast du im Übermaß.)
    Lucy ging ans Fenster. Unten lag ein Spielfeld mit Flutlichtanlage, so daß die Kinder auch nach Einbruch der Dunkelheit spielen konnten. Mücken, Motten und Moskito s schwärmten bereits um die Lam pen. »Sie haben Camillas Hackbraten verpasst «, sagte Lucy.
    Er lachte leise. »Haben Sie genug von diesem Baumwollplantagenpalast? Ich wette, wenn wir bis zum Dessert gekommen wären, hätten ein paar Jungen mit krausem Haar zu unserem Vergnügen einen Steptanz aufgeführt …«
    Dummerweise erschien nun eine schwarze Krankenschwester, was O’Hanrahan verstummen ließ. Sie erklärte, daß die Besuchszeit in diesem Flügel um neun Uhr abends beendet sei und Lucy nun gehen müsse. Die Schwester nahm O’Hanrahan den Stift aus der Hand und legte den Notizblock beiseite. »Heute wird nicht mehr gearbeitet, Mr. O’Hanrahan«, verfügte sie mit sanfter Kranken schwesterstimme . Erst als Lucy den antiseptisch riechenden Gang hinunterging, wurde ihr richtig klar, in welch schlechtem Zustand O’Hanrahan war. Der große Mann, nun so entkräftet und erschöpft. Sie wollte eine Weile allein sein und beschloss daher, der allgegenwärtigen TPL-Limousine und dem aufmerksamen Farley aus dem Weg zu gehen. Sie ging die neun Stockwerke zu Fuß hinunter und verließ das Gebäude durch einen Notausgang zum Parkplatz, der in orange flimmerndes Licht getaucht lag. Dann ging sie zurück zum Besuchereingang und nahm ein Taxi, das sie zum Campus des TPL-Bibelcollege brachte. Erst als sie ausgestiegen war, kam ihr die Idee, daß sie sich in die Stadt und zu einem Drugstore hätte fahren lassen können: um einen Schwanger schaftstest zu kaufen. Lucy spazierte über den Campus. Es war ein angenehm warmer Abend, kurz nach halb zehn. Es kam ihr vor, als müsse es schon Mitternacht sein – so müde war sie von den vielen Ereignissen der letzten Stunden. Alles schwebte in einem surrealen Jet lag-Nebel.
    »Entschuldigung«, fragte sie eine Studentin des Promised Land-College. »Kannst du mir sagen, wo hier in der Nähe ein Drugstore ist?« Das Mädchen lächelte freundlich und erklärte ihr den Weg; es bot ihr sogar an, sie mit dem Auto hinzufahren, da es eine etwas knifflige Abzweigung bei der Einfahrt nach Philadelphia gebe. Lucy wurde klar, daß es zu Fuß wirklich zu weit war.
    »Kann ich dir mit irgendetwas aushelfen?« fragte das Mädchen.
    »Nein, ich glaube nicht«, lehnte Lucy ab, »vielen Dank.«
    »Brauchst du ein Medikament?«
    »Nein, nur ein paar Hygieneartikel.«
    »Studierst du hier?«
    Lucy fand diese Freundlichkeit plötzlich sehr aufdringlich. Aber andererseits, nach den Monaten mit alten Männern war es verführerisch, sich mit einer Frau anzufreunden … Erschöpft und einsam, wie Lucy war, hätte

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