Der dreizehnte Apostel
den Tisch.«
In der Eingangshalle traf sie auf den Professor, der wie eine geschmolzene Wachsfigur seiner selbst aussah. »Ich würde jederzeit das Klima des Sudans gegen diese Luftfeuchtigkeit hier vorziehen«, murrte er und wischte sich über die gerötete Stirn. Er wandte den Blick ab, als sie ihm in die gelben Augen sah.
»Sie sehen nicht sehr gut aus, Sir.«
»Ich fühle mich auch nicht sehr gut«, gab er dieses eine Mal zu.
Als nächster stürmte Reverend Bullins durch die Eingangstür, winkte seinem Fahrer, er solle den weißen Mercedes mit dem TPL-Logo in die Garage fahren, und reichte seiner wartenden Dienerin die Jacke. »Danke, Camilla. Ja, ich sage es Ihnen, Patrick: Sie müssen zum Arzt gehen.«
»Vielleicht morgen«, erwiderte der Professor und bedeutete Lucy mit einem Blick, daß er ihr etwas zu sagen habe.
In einem der prä chtigen Räume, die neben der ho hen Eingangshalle lagen, stand eine lange, alte Ei chentafel. Der Raum war in Hellgelb gehalten, mit zahlreichen Wandleisten und Stuckornamenten im Ante-bellum-Stil; auf dem Tisch funkelte ein protziger
Kerzenleuchter, und über dem unbenutzten Kamin hing ein Porträt – Farley Bullins vor aufgehender Sonne und amerikanischer Flagge.
Alle standen um den Tisch herum, und Camilla rollte einen Servierwagen mit dem dampfenden Hackbraten, der auf einer Silberplatte angerichtet war, herein. Emsig bereitete sie den Eistee für alle zu, presste Zitronen aus und fragte, wer Zucker nehme und ob Miss Lucy lieber Süßstoff wolle.
»Wie finden Sie unsere kleine Bibliothek?« fragte Mrs. Bullins, während sich ihr Gatte an die Stirnseite des Tisches setzte.
»Unzulänglich und spießig«, erwiderte Dr. O’Hanrahan. Lucy unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte O’Hanrahan oft in dieser Laune erlebt: Nichts passte ihm, und man konnte ihm nichts recht machen.
Lila Mae gab noch nicht auf: »Nun, es tut mir leid, wenn Sie …«
»Sie haben eine hübsche Sammlung von Kirchenvätern, aber natürlich kein einziges wissenschaftliches Werk über Textanalyse. Ihr habt ja Angst vor Wahrheit und Wissenschaft.«
Lucy fiel auf, daß O’Hanrahan unsicher schwankte, als er sich auf seinen Stuhl setzte. Vielleicht war er betrunken? Aber wo hätte er hier Alkohol herbekommen sollen?
»Diese Bibliothek ist ein Haufen bestürzender Ignoranz über Bibelauslegung und die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift. Ihr glaubt natürlich, daß jedes Wort göttlich und vom Heiligen Geist diktiert ist – was die vielen Fehler im biblischen Text Gott zuschreibt, nicht den Menschen. Ich bin sicher, daß Gott das zu schätzen weiß.«
Farley jr. und Mrs. Bullins blickten auf Reverend Bullins, ihren Patriarchen, ihren Erretter aus der lausigen Dreizimmerhütte unter dem Damm in Catfish-town, ihren Medizinmann. Reverend Bullins räusperte sich. »Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß ich mit weltlichem Humanismus nichts zu tun habe, Dr. O’Hanrahan. Oder mit Modernismus oder Wissen schaftlichkeitsismus « oder mit welchem ismus auch immer, den ihr sogenannten Gelehrten anbringen wollt …«
»Stupiditismus?«
Reverend Bullins strich Butter auf sein Maisbrot. »Ich verstehe, daß Sie einen gewissen Groll verspüren, Patrick. Aber wir von der Pfingstgemeinde wollen lediglich zur Heiligkeit der frühen Kirche zurückkehren.«
»Wenn es um die Stellung der Frauen geht, ganz bestimmt«, meldete sich Lucy, ebenfalls bereit, sich auf einen Wortwechsel einzulassen. O’Hanrahan lachte. »Die frühe Kirche? In diesem mindestens eine Million Dollar teuren Haus, das Sie sich zugelegt haben? Und mit Ihrem steuerfreien Einkommen? Und den zwei Mercedes und dem Privatflugzeug …«
»Gott sorgt für Seine Diener.« Dieses Wort erinnerte Bullins daran, Camilla in die Küche zu schicken, damit sie ihm noch eine Zitronenscheibe für seinen Eistee hole.
Mrs. Bullins wandte O’Hanrahan ihr abgespanntes, geliftetes Gesicht zu und stellte mit einem leisen Kopfschütteln ihr Einfühlungsvermögen zur Schau. »Dieser Zorn, den Sie in sich haben, Patrick … Kommen Sie zu Jesus. Vertrauen Sie Ihm Ihre Bürde an.«
»Lila, vielleicht könntest du mich weiterreden lassen«, schnaubte Reverend Bullins.
»Kommen Sie zu Jesus«, wiederholte seine Frau.
»Wissen Sie, was Ihr frommer Gatte macht?« fragte O’Hanrahan Mrs. Bullins. »Einem meiner besten Freunde, der einer der größten hebräischen Gelehrten dieser Welt ist, hat man mit einer Spritze ein Schlafmittel ins Blut gejagt, damit er dem Plan
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