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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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dem Bett; einen Augenblick lang sahen sie einander in die Augen. »Nun, mein Freund, wenn wirklich das Ende nahe ist, schadet es nicht mehr, den Whisky zu trinken. Unsere Laster sind es, die uns im Alter stützen, Mr. O’Hanrahan; sie sind die Geländer, an denen wir uns festhalten, das einzig Konstante in einer Welt ohne Dauer.« Er setzte sich wieder zurück in den Sessel. »In diesem Land und dieser Ära ist das Laster in Gefahr.«
    O’Hanrahan lächelte matt. »Da stimme ich Ihnen zu.«
    Nach einer kurzen Pause öffnete der Mann ein Zigarrenetui. »Haben Sie etwas dagegen?«
    »Überhaupt nicht.« O’Hanrahan fragte sich, ob er sich vor der Oberschwester verantworten musste , wenn Zigarrenrauch in seinem Zimmer hing.
    »Bestimmt nicht?«
    So gut es ging, hob O’Hanrahan den geschienten Arm zu einer einladenden Geste.
    »Ein Mann in meinem Alter ist definiert durch seine Laster. Zum Abendessen im Club ein vorzügliches Rippenstück mit hohem Cholesteringehalt, Portwein in der Bibliothek, eine Zigarre zusammen mit den anderen, ein Brandy am Feuer, hier und da ein kleines Kartenspielchen. Ein Besuch bei der viel jüngeren Geliebten – Sie verstehen, was ich meine.« Mit der Andeutung eines Lächelns hob er anmutig die Hand. »In der Summe bilden sie das, was mich ausmacht.«
    O’Hanrahan, der die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben, fiel plötzlich ein, wer dieser Besucher sein musste : »Sie sind Chester Merriwether, nicht wahr?«
    Der Mann zündete seine Zigarre an und nahm sich einen Pappbecher als Aschenbecher. »Ich bin Charles
    Merriwether, Mr. O’Hanrahan. Aber Sie haben den richtigen Gedanken gehabt. Vorstandsvorsitzender von Merriwether Industries.«
    O’Hanrahan, fiebrig und schwach, war erleichtert, daß sein Gast das Reden übernahm.
    »Chester war mein Vater. Oder vielmehr Chester II. Mein Großvater, der Begründer des ursprünglichen Stahlwerks, war Chester I.« Er zog an seiner Zigarre. »Chester I. war ein Gottesmann. Jeden Sonntag war er Vorbeter bei einem gemeinsamen Gebet in der Fabrik. Aber wohlgemerkt, seine Arbeiter schufteten für ein paar Pfennige, bis sie irgendwann bei einem Arbeitsunfall umkamen; auch Frauen und Kinder, unmenschlich viele Arbeitsstunden, unsägliche Arbeitsbedingungen. Vor den Augen meines Großvaters war ein Abgrund von Arbeiterelend, für den allein er verantwortlich war, aber bei all den Gebeten, bei all seiner Frömmigkeit, bei all seinem Geschwätz über Jesus« – Merriwether sprach den Namen voller Abscheu aus – »wurde ihm nie der Widerspruch bewusst . Männer Gottes wie Chester I. waren mit die Ursache, daß Gewerkschaften gegründet wurden – und heute bezahlt unsere Nation den Preis dafür. Chester II. mein Vater, war ein Liebhaber schöner Dinge. Kunst, alte Meister, chinesisches Porzellan,
    Ritterrüstungen aus dem Mittelalter, Schriftrollen, Sammelobjekte, Antiquitäten.« »Er hat einmal das Matthäusevangelium besessen«, sagte O’Hanrahan.
    »Ein hochgeschätztes Besitzstück. Wir hatten tatsächlich einen Streit, weil ich es an einen anderen Sammler verkauft habe. Mein Vater widmete seinen gehorteten Raubstücken mehr Aufmerksamkeit als der Firma, die seine dilettantischen Studien finanzierte. Als ich die gesetzliche Vollmacht bekam, fing ich an, die Antiquitäten zu verkaufen. Das war ein leicht zu erlangendes Kapital und ersparte uns die riesigen Versicherungsbeiträge für diesen Haufen alter Bilder und Topfscherben. Mein Vater hat mir nie verziehen.«
    O’Hanrahan verkniff sich gerade noch die Frage, warum er das Privileg haben sollte, sich diese Famili engeschichte anzuhören. Mr. Merriwether fuhr fort: »Es gab auch einen Chester III. meinen älteren Bruder.«
    O’Hanrahan erinnerte sich verschwommen an diesen Namen; in der Zeitschrift Look hatte er einmal einen Artikel gesehen; ein Playboy und Jetsetter der sechziger Jahre, Kabrioletts und langhaarige französische Schauspielerinnen …
    »Er hatte kein Interesse am Familienunternehmen, warf einen Haufen Geld zum Fenster hinaus und starb betrunken, als er von der Straße an den Klippen von Menton abka m. Ein gründlich vergeudetes Le ben.«
    »Aber er hat sein Leben anscheinend genossen«, äußerte O’Hanrahan. »Ein Mann mit vielen Lastern, so wie Sie selbst.«
    Aber bei diesen Worten brach Merriwether wütend los: »Nicht wie ich. Es gibt einen Unterschied zwischen Laster und Selbstzerstörung! Jeder Narr«, donnerte Merriwether, »kann

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