Der dreizehnte Apostel
widerstehen.)
Früher hatte Lucy diese ganzen Albernheiten als Unsinn aus dem »südlichen Bibelstreifen« Amerikas abgetan, aber Orals fünfundzwanzig Meter hohen Christus ordnete sie nun unter die nie endenden Überraschungen des Christentums ein – Agnes’ abgerissene Brüste, übers pannte Säulenheilige, Milchtrop fen von einer Ikone, Haile Selassie und seine gehorsame christliche Menagerie und Oral Roberts’ Fe stung der Macht. » Der einzige Unterschied besteht darin«, kommentierte sie, »daß die anderen Verrücktheiten die geliebte, in Ehren gehaltene Folklore dieser Länder widerspiegeln.«
»Aber in den USA ist es genauso«, beharrte O’Hanrahan. »Scharlatane wie Oral Roberts und Jim Bakker widerspiegeln genauso die kulturellen Obsessionen, die Amerikas Kennzeichen sind: Geldgier und Showbusiness. Reverend Ike, der gesagt hat: ›Ich kann den Herrn viel besser lieben, wenn ich Geld in der Tasche habe.‹ Kenneth und Gloria Copeland mit ihrem ›Gesundheit und Wohlstand, das ist unser Evangelium‹ Robert Tilton, der in steuerfreiem Geld geradezu schwimmt, achtzig Millionen Dollar, schätzen manche – allein seine Privatvilla ist fünf Millionen Dollar wert.«
Der Professor hob den Blick von seinem gelben Notizblock, um zu sehen, woher die fade Spülwasser musik im Fernsehen kam. Richard Roberts warb für einige Videobänder, die man für eine Spende von hundertzwanzig Dollar bekam: »Und wenn Sie Ihre Saat der Liebe heute ausbringen«, sagte Roberts junior, »schicken wir Ihnen postwendend dieses Fünf-Kassetten-Paket mit einer Bühnenfassung des Neuen Testaments. Als wären Sie selbst dabei gewesen !«
Aus den Augenwinkeln blickte der Professor auf Lucy. »Holen Sie Ihr Scheckbuch raus«, sagte er, als Lucy auf die Fernbedienung drückte. Auf dem nächsten Bibelkanal warb jemand mit einem Scheckheft, auf dem das TBN-Lo go des Trinity Broadcasting Net work zu sehen war. »Wenn Sie diese Schecks ausfüllen«, sagte ein lebhafter junger Mann, »dann erinnern Sie sich an die TBN-Familie, der Sie diese Liebesgabe schicken …«
»Saat der Liebe, Liebesgabe«, meckerte O’Hanrahan und packte die Fernbedienung.
»Warten Sie«, sagte Lucy, die nicht wollte, daß er ein anderes Programm einschaltete.
TBN war die neuere, verbesserte Ausgabe des Prai se The Lord Club, mit Jane und Paul Crouch. Einen Augenblick lang dachte Lucy, Tammy Faye Bakker habe den Weg zurück auf den Bildschirm gefunden, aber es war Jane Crouch, eine neue, verbesserte Tammy Faye, ein gutes Stück älter, mit noch höher toupiertem weißem Haar und demselben kohlschwarzen Augen-Make-up. Paul und Jane stiegen zwei verschiedene, aufeinander zuführende Treppen herunter und trafen sich am Fuß der Treppe, wo sie einander glücklich küssten . Dann platzierten sie sich in die Talkshow-Sitzgarnitur, eine geschmacklose Gruppe aus Samt und Velours. »Diese Typen habe ich gestern Abend zusammen mit dem Bodybuilder gesehen«, sagte Lucy.
»Ich bin um fünf Uhr morgens aufgewacht, und da haben sie das auch gezeigt. Fast hätte ich Sie angerufen.« John Jacobs, der auf dem TBN-Kanal für Gott Zementblöcke zerschmettert und Kraftnummern vorführt. Jeder betet und feuert ihn an, und dann tut Gott ein Wunder, und John Jacobs zerschlägt eine Rekordzahl von Ziegeln. Nicht immer beim ersten Versuch, aber doch immer öfter. »Ich hätte Sie fast bei den Bullins angerufen«, gestand O’Hanrahan. »Um mich zu vergewissern, daß ich das wirklich gesehen
habe. Das fiebrigste Delirium kann nicht mit dem amerikanischen Fernsehen mithalten.«
»Sind Sie sicher, daß Sie sich wohlauf fühlen, Sir? Wenn ich Sie ermüde, gehe ich …«
»Nein, das hat mich so aufgeputscht, daß ich nicht weiß, wie ich mich fühle.«
»Machen Sie Fortschritte?« fragte Lucy und warf einen Blick auf den gelben Notizblock, dessen Seiten sich mit griechischen Buchstaben füllten.
»Ja«, erwiderte er bedrückt. »Sie müssen das Zeug hier herausschmuggeln und an einem sicheren Ort verstecken.«
»Warum verraten Sie mir nicht den Schlüssel zu dem Code, Sir …«
» Vergiss es. Dieses Baby ist mein letztes Hurra, und ich werde nicht sterben und Sie damit Karriere machen lassen.«
Lucy war verletzt, quittierte die Äußerung aber als sein übliches Gepolter. Vielleicht muss er so daherreden, um sich selbst davon zu überzeugen, daß er nicht so schwerkrank ist.
Jane Crouch auf dem Bildschirm war wieder einmal dabei, hysterisch die Sterbeszene ihres Vaters zu
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