Der dreizehnte Apostel
Seite. Lucy fragte sich, wann der Tag kommen werde, an dem jemand, automatisch und ohne nachzudenken, ihr Fürsprecher war. Gabriel fuhr fort: »Hey, kannst du das glauben, diese Geschichte mit Vito? Glückliches Mädchen. Vito ist ein bisschen doof, aber verdammt sexy. Weißt du, ich bin wirklich stolz auf sie. Sie hat sich aus ihrem Kokon entpuppt und es geschafft, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, weißt du?«
»Sie kann von mir aus zur Hölle gehen«, sagte Lucy. »Ich will nicht heimkommen und meine Möbel auf der Straße vorfinden.« Lucy stellte sich das bildlich vor und wurde noch deprimierter bei dem Gedanken an die Schäbigkeit ihrer Gebrauchtmöbel sammlung aus dritter Hand, zusammengekauft auf den Basaren von St. Vincent de Paul. »Oh, Gabe, ich muss aufhören, aber was war so dringend – was wolltest du mir unbedingt sagen?«
»Es wird eine Weile dauern, bis ich dir alles erklärt habe. Ich habe wirklich eine Menge schlafloser Nächte darüber zugebracht. Bist du bereit?«
»Worum geht es denn?«
»Ich habe beschlossen, den Magister in Kunstgeschichte zu machen.«
$$$
Oral Roberts’ bestürzend ignorantes Gesicht mit den Hängebacken verschwand, und ein Werbespot begann, bei dem ein alter Mann, der über die alten protestantischen Werte schwadronierte, ein Angebot von über vierzig Schallplatten anpries. Wenn man sofort bestellte, bekam man zusätzlich ein Album mit zeitgenössischer christlicher Musik. Ein Chor von fünfzehn schwarzweiß gekleideten Frauen und Männern erschien und sang ein besänftigendes Jesus-Lied ohne Melodie, fad wie Abwaschwasser. Die Kamera schwenkte auf ihre Gesichter – weit aufgerissene Augen, der Gesichtsausdruck voller Heiligkeit und leer für alles andere, während die Münder »Seine Liebe ist für mich da« sangen, die erhebende Musik der Christenheit.
»Wo einmal Bach, Mozart und Beethoven regiert haben«, seufzte O’Hanrahan, »haben wir jetzt das. Das ist das Traurigste am amerikanischen Christentum: die mangelnde Bildung der Geistlichen, die Klischees in den Predigten und die politische Rückständigkeit, die kitschigen Kirchen, die fade Leere der Musik … Bei dem Reichtum dieser Nation, in der neun von zehn Bürgern sich als religiös bezeichnen, könnten wir in jeder Stadt eine Sixtinische Kapelle haben, alle zehn Jahre könnte ein Brahms-Requiem komponiert werden. Aber für die Christen unseres Landes gehören Kunst, Architektur, Gelehrsamkeit und Musik ins feindliche Lager.« O’Hanrahan sah auf Lucy, die auf einem Kunststoff stuhl saß. »Zur Hölle, vielleicht hat Bullins recht, und dieses leicht eingängige Betäubungsmittel ist die Zukunft des Christentums. Vielleicht wollen die Leute nicht erbaut werden, sie wollen nicht, daß man etwas von ihnen erwartet; vielleicht wollen sie nur Gedanken für den Tag, die jeder Idiot kapiert. Diese neuen Megakirchen mit Gemeinden von 20.000 Leuten – sie haben Tagesstätten und medizinische Versorgungsprogramme und Discountgeschäfte für die Gläubigen, aber wo spiegelt sich der Ruhm Zions? Wo gibt es Schönheit und Geheimnis, etwas Unkalkulierbares und Unverständliches? Ich bekomme direkt Lust, schreiend zum äthiopischen Ritus überzulaufen!«
Oral Roberts tyrannisierte sein Fernsehpublikum – warum hatten die Leute den Scheck noch nicht abgeschickt? Sie würden sich vor Gott dafür verantworten müssen!
»Oral ist dabei, aus der Mode zu kommen, höre ich«, sagte O’Hanrahan. Oral Roberts, den seine Heilpredigten in den fünfziger Jahren in Schwierigkeiten gebracht hatten – eine Frau aus Detroit war nach seiner Kampagne davon überzeugt, daß sie von Diabetes geheilt sei, und starb, drei Tage nachdem sie ihre Insulinspritzen weggeworfen hatte. Vor kurzem war Oral Roberts aufgestiegen zu den Ätherwellen und hatte einen fünfundzwanzig Meter hohen Christus gesehen, der zu ihm sprach. Sein Meisterstück war seine Prophezeiung, daß Gott ihn zu sich holen werde, wenn er, Oral Roberts, nicht viereinhalb Millionen Dollar bekomme. Ein geheimnisvoller Spender, so behauptete er, spuckte das Geld schließlich aus, aber erst nachdem Roberts’ Mätzchen ihn die Hälfte seiner Fernsehzuschauer gekostet hatten. Als Richard Roberts, sein Sohn, mit den Kameras die Treppe zu Orals Sterbezimmer hinaufstieg, um seinem Vater die gute Nachricht zu überbringen, schlug ein Blitz in den Turm mit dem Roberts-Meditationszentrum ein, so daß dieses Spektakel der Vergessenheit anheimfiel.
(Wir konnten nicht
Weitere Kostenlose Bücher