Der dreizehnte Apostel
tun. Ich will nicht sehen, wie Gott enttäuscht wird … Nein, ich will diese Falsche Prophezeiung verstecken, und wenn Gott will, daß sie bekannt wird, wird Er dafür sorgen. Ich bin bereit, im Himmel dafür Rechenschaft abzulegen.« Pater Sergius’ Gesicht wirkte wie aus einem fernen, unirdischen Reich. »So wie Moses und Ezechiel zu Gott gefleht haben, er möge seinen Zorn zurückhalten, muss auch ich hoffen, daß Er Sein Jüngstes Gericht aufschiebt. Das Evangelium wird zurückkehren in den Osten, um wieder aus der Geschichte zu verschwinden.«
Pater Sergius trat zurück an O’Hanrahans Bett. O’Hanrahan konnte den Nachttisch nicht genau se hen, aber er hörte, wie Flüssigkeit in die Schüssel gegossen wurde.
»Aber diesmal nicht für zweitausend Jahre«, fuhr der Mönch fort. »Vielleicht ist es zwecklos, was ich tue! Wer weiß, ob das Ende nicht beginnt, bevor ich wieder auf dem Berg Athos bin! Im Nahen Osten wird es Krieg geben, ein Antichrist sitzt in Babylon …« O’Hanrahan dachte fiebernd an die apokalyptischen Fresken im Kloster Dionysiou, die Flugkörper, die Menschenmassen, die in unterirdischen Schutzräumen kauerten …
»Sie dürfen nie versuchen, dieses Evangelium zurückzubekommen«, erklärte Sergius. »Niemand darf das. Niemand darf wissen, daß ich hier war.« Er nahm seine Schüssel und murmelte russische Gebete.
O’Hanrahans Herz schlug schneller. »Was machen Sie, Pater?« Pater Sergius nahm den Waschlappen von O’Hanrahans Stirn und machte ihn in der Schüssel wieder feucht. Die Schüssel in der einen, den Waschlappen in der anderen Hand, setzte er sich auf den Bettrand. »Was … was ist das?«
»Schsch«, beruhigte ihn Pater Sergius. »Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde meine Mission, Sie neu im Glauben zu taufen, nicht erfüllen?« O’Hanrahan stiegen Tränen in die Augen.
»Haben Sie gedacht, mein Freund, ich würde im Paradies ohne Ihre Gesellschaft auskommen? Denken Sie an alles, worüber wir sprechen, worüber wir diskutieren werden.« Pater Sergius betupfte O’Hanrahans Stirn und machte ein Kreuzzeichen.
Ja, so ist es gut, dachte O’Hanrahan: am Ende ausgesöhnt mit dem Osten. Dort ist mein absolutistisches Herz immer gewesen – es war nur mein westliches Hirn, das den ganzen Ärger verschuldet hat. Getröstet lauschte er auf Pater Sergius’ Griechisch mit russischem Akzent. Ach, das ist das Sterbebett, das ich mir gewählt hätte. Sergius spielte auf den kontemplativen Tod des Ignatius von Antiochien an: Meine Geburt ist nun nahe, lasse mich das reine Licht empfangen!
Nein, ich werde ihm nicht sagen, daß die Schriftrolle, die er genommen hat, das Traktat aus dem 14. Jahrhundert ist, das ich aus dem Vatikan gestohlen habe.
»Schlafen Sie jetzt in Frieden, mein Freund.« Pater Sergius küsste sein griechisches Kreuz und dann O’Hanrahans Stirn. »Wir werden uns auf dieser Erde nicht wiedersehen.« O’Hanrahan Schloss einen Moment die Augen.
Pater Sergius packte seine Sachen zusammen, goss das heilige Wasser zurück in die Phiole und bekreuzigte sich mit einem russischen Segen. Ein letztes Mal sahen die beiden alten Männer einander in die Augen. Dann verließ der Pater das Zimmer.
O’Hanrahan schlief ein und wurde gleich darauf von Gregorianischen Gesängen geweckt. Als er die Augen öffnete, lag er immer noch in seinem Kran kenhauszimmer . Die Medizin fängt anscheinend an zu wirken, dachte er, als er die Kraft hatte, sich aufzusetzen, die Beine auf den Boden zu stellen und schließlich aufzustehen. Aus dem dunklen Privatzimmer der Intensivstation spähte er hinaus auf den Gang und erblickte ein langes, von Fackeln erleuchtetes Gewölbe. Wo war das? Das hatte er schon einmal gesehen … genau, die Burg Krak in Jordanien. 1948, vor dem Ende des UNO-Mandats war er dort gewesen. Er erinnerte sich: Morey hat mich hingefahren. Die Burg wurde 1132 unter Balduin I. erbaut, dem glücklosen Kreuzritter, der sich zum König von Jerusalem ernannte. O’Hanrahan fuhr mit der Hand über die Mauern aus grob behauenen Steinen. Ein staubiges altes Gemäuer, voller Gespenster, voller Gespenster. Ich erinnere mich jetzt: Tausende Franzosen, Engländer, Deutsche und Spanier waren darin verschanzt und warteten auf den Showdown mit Saladin. O’Hanrahan hörte, wie der Gesang verebbte und vom Muezzin übertönt wurde. Ja, das ist im heutigen islamischen Jordanien, erkannte O’Hanrahan, und es ist Gebetszeit. Er hörte arabische Zimmerleute draußen vor der Burg, die
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