Der dreizehnte Apostel
Frater?« fragte sie, nicht ganz ohne Herablassung.
Er klopfte ihr auf den Arm. »Ich war sehr fleißig, nicht wahr?« Lucy kaute langsamer. »Sie haben unsere Wege also schon in Assisi gekreuzt?«
»Nein«, sagte er und attackierte sein Kuchenstück. »Assisi? Was sollte ich dort?«
Vielleicht, dachte Lucy amüsiert und erleichtert, hat Pater Vico die Geschichte von dem fanatischen Frater anfangs erfunden.
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O’Hanrahan spürte das kühle, feuchte Tuch. Ihm kam es vor, als würde er glühen, und er erwartete ein zischendes Geräusch, als ihm dieses Tuch auf die Stirn gelegt wurde. Sein Blick richtete sich auf einen langen schwarzen Ärmel und eine alte Hand, die ihm Linderung brachte. O’Hanrahans Bewusstsein war verschwommen, er war kurz davor, wieder in Schlaf zu tauchen. Er sah auf die Uhr auf dem Nachtkästchen. Sechs Uhr abends. Dann konzentrierte er seinen Blick wieder auf die schwarzgekleidete Gestalt neben seinem Bett.
»Brille«, flüsterte er mit trockener, kaum hörbarer Stimme. Die verschwommene Gestalt in Schwarz beugte sich vor. O’Hanrahan meinte, eine schwarze Tasche in ihrer Hand zu erkennen, die jetzt auf dem Nachttisch abgestellt wurde. Die Gestalt nahm eine Flasche heraus. O’Hanrahan hörte, wie sie auf dem Tisch klirrte. Dann kam eine kleine Schüssel zum Vorschein, in die etwas Flüssigkeit aus der Flasche gegossen wurde.
»Wer sind Sie?« stöhnte O’Hanrahan, der nun neugierig war. Als nächstes griff die Gestalt nach dem Brillenetui auf dem Nachttisch, nahm die Brille heraus und setzte sie O’Hanrahan sanft auf. »Ach, Sie sind es«, flüsterte O’Hanrahan.
Pater Sergius vom Berg Athos, aus der skiti des Propheten Jeremias, blickte freundlich auf ihn herab. »Das ist ein Traum … Sie sind von so weit gekommen«, sagte O’Hanrahan leise.
»Schsch«, antwortete Pater Sergius. »Ich habe von meinen orthodoxen Brüdern in Jerusalem erfahren, was geschehen ist. Glücklicherweise können die Franziskaner kein Geheimnis bewahren. Für Sie, mein Freund, habe ich Athos noch einmal verlassen.«
O’Hanrahan blickte in Pater Sergius’ zwingende blaue Augen. Er phantasierte, daß er vielleicht gestorben war, und Pater Sergius mit seinem langen weißen Bart und dem freundlichen Gesicht war Gott, der dem Fiebernden höchstpersönlich ein kühles Tuch auf den Kopf legte. »Athos noch einmal verlassen?« fragte O’Hanrahan laut.
Pater Sergius nickte ernst. »Ja, für Sie habe ich meine geliebte Heimat verlassen, für Sie und St. Matthias.
Und sein Evangelium. Ich habe zuerst gehofft, mir dieses Evangelium in Assisi zu beschaffen, aber es hat nicht sein sollen.«
O’Hanrahan, der fast zu schwach war, um eine Faust zu ballen, strengte sich an, um seine Gedanken zu sammeln. Er musste sich konzentrieren! »Sie haben sich daran erinnert, daß ich vom Matthäusevangelium gesprochen habe?«
»Mein Freund, seit dem 4. Jahrhundert, seit der Zeit Konstantins, hat der ganze Osten dank Eusebius über Matthias und sein häretisches Evangelium Bescheid gewusst .«
Pater Sergius ging zu O’Hanrahans Mappe, die auf einem der unbequemen Besucherstühle stand. Er begann, in O’Hanrahans Papieren und Aufzeichnungen, den Fotos und den gelben Notizblöcken zu wühlen. »Und Sie haben mir selbst von dem Matthäusevangelium und seiner Entdeckung durch Rabbi Rosen erzählt, als Sie noch viel jünger waren. Als wir uns kennenlernten.«
Ja, dachte O’Hanrahan. 1948, meine erste Reise auf den Berg Athos. Um Pater Sergius zu beeindrucken, hatte O’Hanrahan, damals ein kleiner Jesuitennovize, Rabbi Rosen und seine Entdeckung des Matthias Evangeliums erwähnt. Diese Unterhaltung hatte vor über vierzig Jahren stattgefunden. »Sie erinnern sich an alles, Pater.«
»Woran ich mich erinnere, ist das, was Gott mir im Gedächtnis zu behalten erlaubt hat.« Pater Sergius fand den braunen Pappbehälter mit dem Pseudo Evangelium und nahm ihn aus O’Hanrahans Tasche. O’Hanrahan beobachtete, wie Pater Sergius die Schriftrolle prüfte, das Pergament wieder zu einem Zylinder rollte und in seinem Behälter verstaute. Dann steckte der Pater ihn in seine eigene Mappe. »Diese Welt, deren Ende so nahe ist, würde einen falschen Gebrauch davon machen, fürchte ich.«
»Glauben Sie, es ist die Falsche Prophezeiung der Endzeit?«
»Ich bin sicher, daß sie es ist«, erwiderte Pater Sergius. »Aber das Ende darf noch nicht kommen, Patrick. Der Mensch ist noch nicht bereit. Die Menschheit hat noch so vieles zu
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