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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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etwas Arabisches aufzuschreiben … Und jetzt stoßen sie mich an den Rand. Dieser Schritt oder der nächste, und dann werde ich fallen. Ich höre den jungen Mann neben mir, der erstickt schluchzt und Maria, den Erzengel Michael und sein Flammenschwert anruft. So durfte es doch bestimmt nicht enden, bestimmt würde unser Gott triumphieren. Ah, noch ein Schritt. Au – ein Tritt in den Hintern … Ich fliege … Diese Kästen sind wirklich genial. Jetzt werde ich aufprallen. Nein. Noch ein bisschen länger. Meine Kleidung verheddert sich um mich, der Wind rüttelt an dem Kasten; ich spüre, daß Felsen an mir schürfen – gleich ist es soweit. Seltsam, wie vertraut dieser Sturz ist. Habe ich vielleicht ein Leben lang so gelebt? Oh, hier kommt der Boden, kommt auf mich zu, kitzelt an meinen Füßen, eins, zwei, drei …
    O’Hanrahan kam zu sich. Er sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch, registrierte, daß es dunkel war, und rechnete aus, daß es zehn Stunden her sein musste , seit er das letztemal bei Bewusstsein gewesen war. Die Tage und Nächte verbrennen im Fieber, dachte er. Die letzten Tage meines Lebens, und ich verschlafe sie. Er sah auf das Wasserglas neben seinem Bett: abgestandenes, milchiges Wasser, wie direkt aus dem Mississippi. Daneben stand in einer einfachen, kitschigen Vase eine matte Blume, die Lucy mitgebracht hatte. Und da lag eine Bibel. Die Tage sind mir schneller als das Weberschifflein ….Die Fülle unserer Jahre ist siebzig, und ist Kraft uns beschieden, wir kommen auf achtzig’, und ich werde wahrscheinlich nicht einmal siebzig, fügte O’Hanrahan hinzu.
    So sei es denn. Wir fürchten uns vor den Qualen des Endes, wir zürnen Gott für die Schmerzen und die Schrecklichkeit der letzten Stunden, dabei ist vielleicht ein bisschen Todesqual nötig, um uns davon zu überzeugen, daß wir gut daran tun, in die nächste Welt zu gehen – ob sie nun fühlloser Schlaf oder der Born der Engel ist. In diesem Fall läge eine tiefe Weisheit in diesen Todesqualen. Und sie sind wirklich nur ein Moment, wenn man die ganze Zeitspanne rechnet, ein letztes Eintreiben von Forderungen vor dem Ende, ein kleiner Preis dafür, daß man gelebt hat. Und dann der Moment selbst – wird es einen Augenblick geben, in dem mein schwindendes Bewusstsein einen flüchtigen Blick auf die Unendlichkeit der Nichtexistenz erhascht, auf die ich zusteuere? Werde ich eine Emanation des Lichts erleben, so wie manche kurz vor ihrem Tode, oder wird das Licht langsam erkalten und verlöschen, während die Dunkelheit über mich hereinbricht, die letzte, unaussprechliche Dunkelheit? Zum Grabe spreche ich: »Du bist mein Vater« / und zum Gewürme: »Meine Mutter, meine Schwester!«
    Er dachte zurück an Korea, an sterbende Männer, die kurz vor dem Ende noch einmal zu sich kamen, um ein letztes Wort zu sagen oder den Namen ihrer Mutter zu rufen. Vielleicht bedeutete die Wiederkehr seines Bewusstseins , daß genau dieser Moment ge kommen war. O’Hanrahan blickte sich im Zimmer um, das fluoreszierende Licht an der Korkdecke, der Vinylstuhl in der Ecke: mein kleines Sterbezimmer.
    Herr, sei mit uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes.
    Ist das meine Todesstunde?
    (Sieht so aus.)
    Na gut, dachte O’Hanrahan, wie soll ich sie verbringen? Ein bisschen fernsehen? Ich dachte, an diesem Punkt würde ich mich besiegt und gebrochen fühlen. Die Schriftrolle hat mich schließlich doch überlebt. Der große O’Hanrahan geht ein in ein schändliches Grab, kaum besser als die Gosse, in die sein Vater gestürzt ist. Aber das musst du mir lassen, Herr: Ich habe der Welt noch ein letztes Abenteuer abgerungen, nicht wahr? Ein letzter Versuch mit meiner wahren Liebe, den Bruchstücken aus der Vergangenheit, der Weisheit der Alten, den alten, bärtigen Kameraden, geschützt von Kreuz, Thora oder Halbmond, der überirdischen Geheimnissen – viertausend Jahre von Geheimnissen, die Gott für mich auf diese Erde gebracht hat, damit ich damit herumspielen und mich damit amüsieren kann. O Heiliger Geist …
    (Immerhin erinnerst du dich noch an Mich.)
    Weißt Du, wie sehr ich dieses Leben geliebt habe? Hat eines von Deinen Kindern so viel Spaß gehabt wie ich? Okay, okay, ich bin ein Abtrünniger und Gotteslästerer, ich weiß, aber ich wollte Dich damit genauso amüsieren wie mich! Ich habe immer gedacht, daß Gott bei meinen Witzen dabei ist – bestimmt bist Du an diesem Punkt genauso zynisch wie ich.
    (Richtig, bei diesem Job ist Sinn für Humor

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