Der dreizehnte Apostel
in Ordnung ist. Ich habe meine Eltern gestern angerufen, sie machen sich also keine Sorgen mehr, und äh, ich werde bald wieder daheim sein, wirklich bald.«
»Wolltest du den Franziskanerorden nicht wieder verlassen?« fragte Lucy ruhig. »Ja, wollte ich. Aber die Zeit hier in Europa hat mich die Sache neu über
denken lassen, dank Dr. O’Hanrahan ironischerweise. Die Franziskaner sind jetzt meine Familie.«
»Gabriel«, drängte sie und zog ihn näher, um ihn zum Abschied zu umarmen, »du bist doch nicht etwa eine Geisel?«
»Patrick ist die Geisel«, erwiderte er leise.
Die Erwähnung von Dr. O’Hanrahans Vornamen brachte Lucy einen Augenblick aus der Fassung.
»Der Professor ist Geisel eines Traums von akademischer Unsterblichkeit, die er wahrscheinlich nicht mehr erreichen wird«, fuhr Gabriel fort. In seinen Augen stand so vieles, das er noch sagen wollte. Aber er wandte sich ab. »Bye, Luce.«
Lucy stand sprachlos da, während Gabriel durch die von Bruder Vincenzo aufgehaltene Tür in den erleuchteten Gang trat. Sie hörte die Tür zufallen. Als sie eben fortgehen wollte, ging die Tür noch einmal auf. »Oh, warte noch einen Augenblick …«
Gleich darauf war Gabriel wieder draußen und drückte ihr zehn Ansichtskarten in die Hand: »Kannst du die für mich aufgeben?« fragte er. »Ich muss morgen sehr früh nach Irland aufbrechen, und ich kann sie nicht mehr von hier aus abschicken.«
»Klar«, antwortete Lucy betäubt. »Unsere alte Heimat, wie?«
»Genau. Also, tschüs.«
Abgesehen von all den Rätseln und ihrer Enttäuschung tat es Lucy sehr weh, in einem fremden Land einem alten Freund zu begegnen, ohne diese Gelegenheit gemeinsam zu feiern, über alte Zeiten zu plaudern und zusammen Neues zu erleben. Daß er sie wiedergesehen hatte, schien Gabriel nicht stärker zu berühren, als wenn er zufällig irgendeine Bekannte getroffen hätte. Das deprimierte sie. Und, irgendwie neidisch, ärgerte sie sich darüber, daß er wieder so eng mit den Bettelmönchen verbunden war. Eifersucht, warf sie sich selbst vor. Er gehört irgendwo dazu und du nicht. Ich bin keine Nonne geworden, dachte sie, weil ich weiß, wie wenig Spaß Nonnen haben. Aber ich weiß, daß Mönche sich besser amüsieren, als sie zugeben: der Männerclub schlechthin. Welche Freuden und welchen Trost Gabriel auch immer bei den Franziskanern findet, für mich ist das, wie so viele andere Dinge in seinem Leben, eine verschlossene Tür, verdammt noch mal.
Während Lucy die High Street hinaufging, beschloss sie, die Ansichtskarten zu lesen. Wer weiß? Vielleicht stand auf einer ein versteckter Hilferuf.
Kein Glück. Lauter langweilige, pflichtbewusste , Hier-bin-ich-in-Merry-old-England-Karten, zugeschnitten auf Verwandte und Freunde. Sie überflog die Adressen: Christopher, Luke, Dr. Shaughnesy: »Tut mir leid, daß ich mich nicht gemeldet habe, aber es ist alles in Ordnung.« Und so weiter. Eine Karte war an Judy und Lucy gemeinsam adressiert:
Liebe Mädels, meine Reise hat mich nach ye oolde Oxforde gebracht, wo ich mich schon fünfzigmal verliebt habe! Ohne den Zölibat würde ich mit allem schlafen, was einen englischen Akzent hat. Wie geht’s den ver rückten Katzenviech ern??? Ich erwarte, daß ihr die se alberne Karte an den Küchenschrank stekt, okay? Gegen Ende des Sommers komme ich zurück, seht bis dahin zu, daß Chicago so bleibt, wie es war.
Alles Gute Gabriel
Rechtschreiben war nie seine Stärke, dachte Lucy, als sie stekt sah. Die Karte zeigte eine dieser typischen Oxforder Szenerien, ein hübsches Paar in dunkler Uniform, das auf einem Fahrrad herumflitzte, jung und ausgelassen in der Sonne. Das ist in diesem regnerischen Gefängnis hier noch nie passiert, versicherte Lucy sich selbst. Und was soll das mit diesen »Mädels«? Bekomme ich keine Karte für mich persönlich? fragte sie sich.
Noch deprimierter las sie die Karte an Christopher, voll von Gabriels sprunghaftem, aber weniger nichtssagendem Geplauder, Schilderungen von regennassen Straßen und grauem Himmel, von alten Bänden in Oxforder Bibliotheken, die er mit einem Schauder von Entzücken berühre; Andeutungen darüber, wieviel er Christopher zu erzählen habe, wenn er erst wieder zurück sei. Unterzeichnet: Lots of love. Ich has se Männer, beschloss Lucy.
Klamm und kalt stand sie vor ihrem Spiegel im Gästezimmer von Braithwaite und wickelte sich aus ihrem Schal. Sie legte ihn sich kurz übers Haar und kreuzte die Enden unter dem Kinn, so daß sie
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