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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.F. Dam
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maximum und die Labors ansieht, schließlich die ärmlichen Wohnanlagen im Westen; irgendwo im Dunst weiter links der Hafen, von dem Britannien flottenweise Diebsgut verschiffte; wir ziehen die nächste Schleife, weiß an der Küste, azurblau und hoch die Innenstadt, wir bekommen nun auch Muschelfragmente im Norden zu sehen, dort wo die Stadt ganz unentschlossen ist, wo sie sich zögerlich gegen die Wirklichkeit stemmt, wo sie mit hellgrauen Lagerhallen, Autofabriken, Computerfabriken und den vier Kühltürmen eines Atomkraftwerks erst in die Sumpflandschaften rinnt, in die Marschen und Reisfelder, dann mit Zufahrtsstraßen, einer Autobahn, verschämten Vorortdörfern und Bahndämmen hinaus in das echte Indien. Denn nur hundertvierzig Kilometer weiter nördlich liegt das verlotterte Kalkutta. Und ein winziges Stück über den Ozean winkten Kalonagars Promenaden und Shoppingmalls, hätten sie das jemals gewollt, dem blutenden Bruder Bangladesh zu.
    Der Jet lässt das Stadtgebiet rechter Hand liegen und macht sich daran, uns endlich loszuwerden. Ich ahne schon den Flughafentower; das Fahrwerk bricht aus seinen Klappen. Dann die niedrigen, in Prismenhaufen angeordneten Flughafengebäude; bestimmt nicht nur von ferne sieht der Digha-Airport aus wie München oder Zürich, jedenfalls nicht wie ein indischer Flughafen.
    Ich denke wieder an die Hungersnöte der Vergangenheit. Sensenscharf wüteten sie durch das Land, während man an den knochigen Nasen von Millionen Sterbenden vorbei Getreide exportierte oder die rettenden Schiffe vorbeifahren ließ, Menschenopfer, dargebracht dem zu Launen neigenden Weltmarktpreisgott. Und ich denke an die falsche Loyalität der indischen, im Sold der Engländer stehenden Truppen, die diese caustischen Opferfeuer hundertneunzig Jahre lang bewachten.
    Sekunden vor dem Aufsetzen des Flugzeugs wirft Sophia mir einen prüfenden Blick zu. Sie errät meinen Gemütszustand. »Dein Großvater war ein zorniger Mann«, sagt sie, »und jeder kann das verstehen.«

    Auf dem Weg zum baggage claim höre ich fast nichts, was meinen eng geschnittenen Eustachischen Röhren zuzuschreiben ist. Sophia quasselt vor sich hin, während ich mich noch finsteren Gedanken widme; sie trägt Jeans, flache Sandalen und ein schlecht sitzendes, gelbweißes T-Shirt.
    Mit unserem Gepäck schlüpfen wir hinaus in den bengalischen Sommer – er liegt wie ein mattes Tier über dem flachen Land – und nehmen uns ein Taxi. »Zum Oberoi«, sage ich zum Fahrer. Im Oberoi-Hotel habe ich zwei Zimmer reserviert, deren Bezahlung ich wohl übernehmen muss.
    In der Stadt: keine Kühe, keine Rikschas, keine Dreckshaufen, dafür jede Menge europäischer und japanischer Autos. Ich glotze; ich bin ja erst einmal in Kalonagar gewesen, zehn oder elf war ich damals, und ich habe kaum Erinnerung daran. Alle Häuser sind hübsch gestrichen, es gibt Vorgärten und überall Balkone, die Bürgersteige sind benutzbar und im Stadtzentrum gewinnen Glasfassaden die Oberhand.
    Bald fahren wir einen langgezogenen, schönen Park entlang. Er führt hinab zum Meer und mündet fast in die Meerespromenade.

    Das Oberoi ist ein elliptischer Bau aus weißem Stahlbeton, der sich am Ende der von Silberpalmen gesäumten, breiten Promenade in das Meer hinauslehnt.
    Während wir uns anmelden, frage ich die schöne Rezeptionistin, in deren jungem Gesicht niemals der alte, unmenschliche Schmerz Bengalens stand, nach zwei Freunden. Horst Maettgen und Christian Fust. Ich vermute, sage ich, sie seien ebenfalls hier abgestiegen. Die Dame lächelt bezaubernd und lässt ihren Blick über den Bildschirm schweifen.
    »Tut mir sehr leid, Dr. Rai«, sagt sie mit einem abschätzigen Blick auf Sophia, »Ihre Freunde wohnen leider nicht bei uns.« Sie überreicht uns die Magnetkartenschlüssel in einem Papieretui. »In einer halben Stunde sind Ihre beiden Zimmer bereit.« Betonung auf beide .
    Sophia verdrückt sich samt Handgepäck auf die Toilette. Wahrscheinlich hat sie den Blick der makellosen Dame bemerkt und will ihr T-Shirt loswerden. Ich gehe durch die halb im Freien liegende Lobby, dann entlang einer mit dunklen Steinen ausgelegten Wasserfläche bis zu deren östlichem Ende, wo, zwanzig Meter unter mir, die Schönheit selbst, der Golf von Bengalen, in der grellen Sonne explodiert.

KALONAGAR ALSO LEISTET SICH elf Luxushotels. Die Liste in der kleinen Broschüre, die ich in Händen halte, wird angeführt vom Ritz. Dann kommen das Hilton, das Marriott, das Grand India und

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