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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.F. Dam
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Bewegung, keine obskurantistische Alchemie.
    Und es nähert sich seiner letzten Erfüllung.

    Ergebenst
    Ihr Freund

    PS: Ich hoffe doch, Dr. Rai, Ihnen ein andermal die gesamte Geschichte näher darlegen zu können. Aaach. Sie ist lang. Um genau zu sein, sie dauert bereits über 2333 Jahre.

    Es bedarf etwas, das man früher eine übermenschliche Anstrengung nannte, um in dieser Nacht, die ich in meiner Wohnung verbringe, noch ein wenig Schlaf zu finden. Denn ich weiß, dass die Worte Iskanders aus der Tiefe der Jahrhunderte kommen. Ich weiß, dass alles Lüge ist, dass hier die Wahrheit direkt zu mir spricht, sich aber noch nicht als solche zu erkennen gegeben hat. Und ich weiß, dass dieser Gedanke vollendeter Wahnsinn ist.
    Dann wieder komme ich mir vor wie ein Dieb, der sich im Nichts eine Geschichte zusammenstiehlt. Eine Geschichte, in welcher der Part der Wirklichkeit von einem Trugbild übernommen wird.
    Und mit diesem sonderbaren Gedanken schlafe ich ein. Ich habe einen Albtraum, dessen genauen Ablauf ich vergesse, und der mir beim Aufwachen minutenlang wie eine doppelbödige himmlische Vision erscheint.

    Am Morgen hole ich in Gablitz mein Gepäck ab und mache mich auf den Weg zum Flughafen. Mit den zu erledigenden Handlungen versuche ich mich wieder der Welt einzuverleiben. Sophia, die mir mehrere Nachrichten schreibt, trägt ihres dazu bei. Ich stelle den Wagen auf einem Langzeitparkplatz ab, und eine Stunde später brüllen die Triebwerke einer kleinen Bombardier-Maschine auf und pressen mich in den Sitz. Die moderne Welt ist kein Ergebnis einer Verschwörung, der Kolonialismus kein Plan, und die Geschichte kein mysterium . Weiß Gott, wer dieser Iskander ist und welcher Dämon in seiner Schreibmaschine haust. Aus dem Flugzeugfenster sehe ich hinab auf die Rollbahn. Dort streckt sich ein steinerner, schon entschwindender Fluss – der mein altes Leben mit sich schwemmt und die Geschichte Iskanders ein paar Augenblicke lang bloß noch lächerlich erscheinen lässt.

ÜBER GENERATIONEN hat man sich in Indien über einer Frage in den Haaren gelegen. Sie lautete: Wie wirklich ist die Welt? Es gibt manche Lösungsvorschläge und eine Menge Streit, doch um es kurz zu machen: Am Ende kommen viele zu dem Schluss, unsere Welt sei ein ābhāsa , eine bloße Projektion des Inhalts unseres Bewusstseins auf den Bildschirm des Seins/Nichtseins. Es sei, argumentiert man, als gingen wir auf einem dämmrigen Pfad dem Abend entgegen, stießen dabei auf einen Holzstock, der wenige Meter vor uns über den Pfad gestreckt liege, und führen erschreckt zurück, weil wir den Stock für eine gefährliche Schlange hielten, wir also etwas, das nicht vorhanden war, auf ein anderes projizierten.
    Zum ersten Mal wünsche ich mir, ich könnte dieser Lehre Glauben schenken. Ich wünsche mir, alles wäre nicht das, was es ist.
    Seit Tagen bin ich nichts als ein Blatt in einem wilden Sturm. Vordergründig treffe ich souveräne Entscheidungen. Doch in Wahrheit werde ich von irgendetwas herumgewirbelt.
    Ich zurre jetzt meine Gedanken fest. Ich ziehe die Zwischensumme der vergangenen Tage. Was ich bisher – in Erfüllung von Maggies Auftrag – besitze, ist bloß ein Haufen bunter Steinchen, die sich eines Tages zu einem Bild fügen werden oder auch nicht. Und ich gebe mir alle Mühe, aus diesem Bild den Brief Iskander Mahans herauszuhalten.
    Über der Schweiz rufe ich vom Flugzeugtelefon Sophia an. Sie ist ganz aufgeregt und wartet bereits in Heathrow auf mich. Als ich auflege, zittere ich fast – und eine Weile ergehe ich mich in diesem Zittern. Sophia ist das Gegengift zu Iskander, ihre Aufregung muss auf mich übergesprungen sein. Ich nicke meiner Sitznachbarin, einer etwa fünfzigjährigen, sehr gutaussehenden Ärztin für Onkologie in Tel Aviv, die auf dem Weg zu einem Kongress ist, freundlich zu, schalte meinen Bordbildschirm ein und bestelle bei der Stewardess Weißwein (was zum Teufel will ich am Vormittag denn da mit). Ich vergewissere mich, dass meine Zittrigkeit nicht auch mit Sophia selber zu tun hat. Dann denke ich, Sophia erinnert mich an Maggie. Sie hat etwas Verbotenes. Jeder Dummkopf kann doch schöne Frauen mögen.
    Zur Beruhigung klappere ich alte Gedankenadressen ab: ein paar Isohypsendiagramme, dann lese ich in meinem Kopf Tabellen von Wasserrückhaltewerten in den Alpenböden; ich rekapituliere einen Artikel, den ich im letzten Jahr für National Geographic geschrieben habe: Palashi oder die Eroberung Indiens ; und

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