Der dritte Berg
lassen. Ich habe den Eindruck, einer langsamen Metamorphose beizuwohnen. Ihr Haar sieht nun länger aus, die Spitzen drehen sich zu den Wangen hin und unter den Ohren zeigen sie nach außen. Der Friseur ist irgendein Wunderkind.
Ich blicke auf meine Uhr: vierzehn Uhr siebenundvierzig. Warum bin ich noch niemals auf den Gedanken gekommen, es da mit der regsamsten aller Stunden des Universums zu tun zu haben? Einer Stunde, in der fast niemand schläft, während die Nacht faul auf dem Pazifik liegt. Durch die Wucht der schieren Zahl erwacht ein möglicher Gott einmal am Tag beinahe aus seinen Träumen – doch hungern in diesen göttlichen Minuten auch über eine Milliarde Menschen; mehrere tausend Verbrechen werden verübt, ein paar Handvoll Morde, und eine Hundertschaft Menschen kommt in Kriegen ums Leben; und wie viele mögen gerade Selbstmord begehen?, wie viele bei Verkehrsunfällen sterben?, wobei von mir wohlwollend geschätzte hundert Millionen aufgrund der ja doch meist unpassenden Tageszeit Liebe machen, die Übrigen, sie hämmern nähen tippen browsen telefonieren lesen schrauben schreiben kalkulieren lernen pflücken pflanzen kochen essen putzen mähen schneiden mauern zimmern schweißen, oder sie lungern in Cafés, oder an einem staubigen Straßenrand eines Townships in Sambia, wo – in meiner verschwenderischen Vorstellung – gerade ein einäugiger Trommler vorbeizieht, dem niemand Aufmerksamkeit schenkt; sie stehen im Abendlicht rauchend in New Delhis schmutzstarrendem Goushal Marg, wo ein Straßenbarbier fluchend seine tragbare Coiffeurstube einpackt; während in südostasiatischen Sweatshops junge Frauen in die Agonie einer endlosen nächsten letzten Näherinnenstunde hinübergleiten, indes unter ihnen, fast will ich sie warnen, im Souterrain des nicht vorhandenen Souterrains, Vulkane ihre Gänge brennen, Felsmassen sich schichten brechen erzittern; während Männer eiligst ein Telefonat mit ihrer Frau erledigen – denn man wartet, schon entkleidet, in einem billigen Hotel auf sie –, oder aber sie stecken mit einem Sattelschlepper auf der Route 55 im frühmorgendlichen Verkehrsstau nahe Saint Louis fest.
Ich spüre die Welt unter mir, die ganze Welt, ich denke an Vasco, der noch wenig Vorstellung von ihr hatte, ich fühle, wie ein gigantisches Trommelstakkato das Township erfasst, dann ganz Sambia, schließlich bebt Afrika. Haare und Bärte Indiens werden in die Gullys gespült und verstopfen die Kanäle des Landes; übergewichtige Ehemänner eilen – am Westrand der Nacht – in vereinten Tausendschaften zu Huren, samenplatzend wie Blütenstände, die Näherinnen (an diesem Westrand) delirieren von Kindern Ehemännern Fernsehern Häuschen, und die Lastwagen der Welt stinken solidarisch mit der indischen Kanalisation. Die seit Jahren besänftigte Weltgeschichte brandet und zischt seltsam verhalten an unsere von steigenden Pegeln und Stürmen gefährdeten Küsten.
In New Delhi bricht der Morgen an, als unser Airbus landet. Sophia und ich werden aus dem Schlaf gerissen. Wir steigen um in einen Air-India-Jet, der uns quer durch Nordindien bis nach Kalonagar bringen wird. Sophia, die Frisur durcheinander, schläft wieder ein und ihr Kopf fällt auf meine Schulter. Ich spüre ihre Brüste an meinem Oberarm, während sich unter mir die grenzenlosen, erwachenden Getreidefelder der nordindischen Ebenen hinblättern, endlos wie eine Wüste, mit den Gipfeln des Himalaya an ihrem Rand. Alles gewaltig wie ein gelber Tigerrachen mit schneebedeckten Zähnen.
I
DER TIGER WAR BEREITS URALT und müde, als die Segel der englischen Kolonialherren den Dunst am Horizont durchstießen.
Kalonagar nähert sich, diese erste aller indischen Special Economic Zones , die dem Golf von Bengalen an den Busen gekleckert worden ist. Wie eine zertretene Muschel liegt die Stadt jetzt am Meer, und wir ziehen unsere Landeschleife – weiß, mit bunten Straßenbändern schiebt Kalonagars ocean side sich heran, scharf an den schwarzblauen Ozean geschnitten, dann hebt es sich uns glasblau entgegen, mit den Wolkenkratzern der Innenstadt, mit den Bankentürmen, Finanzinstituten und Unternehmensberatungen, die Stadt atmet; und Kalonagar, immer verschont geblieben vom magischen, gefräßigen Blick des Kolonialherrn, atmet nun aus, als wir nach links schwenken, es entfernt sich mit grünen Baumdächern und Villenvororten, mit einem Golfplatz, zwischendrin ein weitläufiges Universitätsgelände, dem man die Bibliothek, das Auditorium
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