Der dritte Berg
Kanchanjanghā, der heute fahl sichtbar wird. Sikkim ist noch so, wie es immer war. Ganz anders als Nepal oder der Rest Indiens. Es ist ein Paradies geblieben. Nichts ist abgeholzt, keine Herden haben die Grasnarbe abgeweidet, keine Städte haben sich ins Umland gefressen.
Der Trägerpfad entlang der Tista ist auch eine Handelsroute, denn die Schotterstraße ist unzuverlässig und brüchig, nach dem Monsun ist sie so gut wie unpassierbar und kaum jemand hier besitzt ein Fahrzeug. Der Pfad führt auch ganz hinauf nach Lachung.
Die Tista wird zusehends schmäler und der Pfad läuft jetzt oft am Ufer entlang. Bei Sonnenuntergang erreicht unsere Expedition mit den Vermessungsinstrumenten und den Gesteinsbohrern eine kleine Ansammlung von Häusern, die wohl ein Dorf vorstellen soll.
Hier hätten wir also Sikkim. Ich blättere durch den Bericht. Später werde ich ihn vollständig lesen. Ich überfliege ein paar Seiten bloß. Sie beschreiben eine lange Wanderung, stets alles mit gewissenhaften Kartierungsangaben. Dann gibt es so etwas wie eine Ankunft.
Es ist der vierte Tag, früher Nachmittag. Wir gehen einen Hügelkamm über einem kleinen, sehr engen Tal entlang. Ich fahre mit meinen Fotografien und Zeichnungen fort, weshalb die Träger murren. Sie möchten zügig ausschreiten und dafür am Abend länger ruhen. Doch die Karte ist das Wichtigste. Nach einer Weile, noch auf dem Kamm, wird mir seltsam zumute. Ich vergleiche alle Karten, die ich mit mir trage, und dann noch einmal. Doch nirgends sind dieser Kamm und dieses Tal da unten zu sehen. Auch einen kleinen, fast vollkommen zugewachsenen Fluss glaube ich auszumachen. Ich gebe den Befehl, ein Stück nach Süden zu gehen, in Richtung des anderen Flusses, des Rangyong. Eine Stunde später entdecken wir, dass der kleine Fluss, der durch das Tal fließt, vor einer Felswand im Boden verschwindet; das Tal ist also von unten verschlossen. Wir gehen wieder hinauf und steigen dort die steile Hügelflanke hinunter. Das gesamte Tal und mit ihm der Fluss sind überwachsen, es gibt Felsüberhänge und mein Kompass zittert. Es mag hier große Erzvorkommen geben. Als wir ein Stück flussaufwärts gehen, dreht sich der Kompass bloß noch im Kreis. Dann finden wir eine Feuerstelle. Sie wird viel benutzt. Weiter hinten schließlich stoßen wir auf eine Blockhütte, ungewöhnliche Architektur für Sikkim, und auf eine zweite Hütte. Es ist aber niemand da. Es mögen Hirten sein oder Einsiedler, die diese Hütten benutzen. Erst am nächsten Morgen begegnen wir einem schweigsamen, älteren Mann, der uns streng ansieht. Dann lacht er, so lange, dass wir uns alle ganz unmöglich fühlen. Er zeigt uns eine heiße Quelle. Sie erklärt das warme Mikroklima, das entlang des Flusses herrscht. Und noch immer spricht der Asket, denn ein solcher scheint er zu sein, kein Wort. Wir nehmen ein Bad in der heißen Quelle. Die Wassertemperatur beträgt 39,3 Grad Celsius. Dann ziehen wir uns wieder zu den Zelten zurück, welche die Träger auf einer Steinbank inzwischen aufgebaut haben. Selbst auf meine hartnäckigen Fragen hin nennt der Einsiedler mir seinen Namen nicht. Er lacht bloß wieder. Er will mich (und uns alle) loswerden, das ist klar. Neben der Feuerstelle finden wir einen kleinen Haufen Haare, die wahrscheinlich von dem Einsiedler stammen, und die B.N. Reddy, unser Ethnologe, in seine Tasche packt. Mir kommt es so vor, als betrachte er die Menschen in dieser abgelegenen Region wie seltene Tierarten, und ich finde seine Vorgangsweise töricht.
Der nächste Morgen …
Es folgen eine lange Beschreibung der folgenden Tage, genaue geografische Angaben bezüglich des Tals, grobe Vermessungsdaten, Aufzählungen von gefundenen Pflanzenspezies, Gesteinen sowie gemessenen und geschätzten Gesteinstiefen. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Hat es mit Christians geplanter Reise nach Sikkim zu tun? Will er etwa zu diesem Tal? Ich bin völlig erschöpft. Als wäre die Lektüre des Berichts schwere körperliche Arbeit gewesen. Am Ende fällt mir noch eine Fußnote ins Auge. Es sieht aus, als sei sie später eingefügt worden. Die Fußnoten hatte ich bisher alle übergangen. Fußnote Nummer 21a lautet:
21a) Exakte Positionsangaben des Tals erwiesen sich als schwierig zu erstellen; aufgrund von Erzvorkommen? Das Tal mit der Katalognummer Si 171-4 scheint aber unbekannt zu sein. Eine genaue Kartierung ist erforderlich. Siehe die bald folgende, exakte Auswertung der
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