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Der dritte Mond

Der dritte Mond

Titel: Der dritte Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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diese Bezeichnung zu rechtfertigen: Es besaß ein schimmerndes Exoskelett aus Chitin, sechs Gliedmaßen, die je nach Bedarf als Beine oder auch Arme eingesetzt werden konnten, und einen dreieckigen Insektenschädel mit Antennen, riesigen Facettenaugen und schrecklichen Mandibeln. Der größte Unterschied zu seinen irdischen Verwandten jedoch war nicht sichtbar. Individualität. Das Geschöpf hatte ein Ich. Und einen Namen. »Was willst du?« wimmerte Charity. Sie hatte Angst. Panik. Sie war sich vollkommen und jenseits aller Zweifel bewußt, daß sie träumte. Die Ameise war nicht real, so wenig wie die weiße Unendlichkeit, in der sie schwebte. Kias war in ihren Armen gestorben, vor acht Jahren, als der Tod aus dem Nichts sämtliche Moroni auf der Erde dahingerafft hatte. Skudder und sie hatten den Moroni mit eigenen Händen begraben, und Charity hatte – vielleicht zum erstenmal im Leben – am Grab eines Wesens geweint, das sie noch ein Jahr zuvor mit jeder Faser ihres Selbst bekämpft hatte. Jetzt stand es vor ihr. Seine mörderischen Mandibeln bewegten sich und begleiteten jedes seiner Worte mit klickenden, reißenden Lauten, und in seinen faustgroßen Facettenaugen stand ein Leid, das hundertmal mehr schmerzte als alle Worte. »Du hast uns getötet«, wisperte Kias. »So viele Milliarden. So viele, viele Milliarden.« »Nein«, stöhnte Charity. »Das ist nicht wahr! Wir haben uns nur gewehrt!« Es war sinnlos. Sie träumte. Sie wußte, daß es nicht Kias war, den sie gegenüberstand, und daß es nicht seine Worte waren, die sie hörte. Der Moroni war tot, und die  Worte, die er zu ihr sprach, kamen in Wahrheit aus ihr selbst, aber das machte es nicht besser. »So viele Milliarden«, beharrte Kias. »Hunderttausende von Welten, und auf jeder Milliarden von uns. Ihr hattet nicht das Recht dazu.« »Wir hatten jedes Recht«, verteidigte sich Charity, doch es war sinnlos. »Ihr wolltet uns töten. Wir haben uns nur gewehrt.« »So wenige von euch«, antwortete Kias. »Und so viele von uns. Ihr hattet nicht das Recht. Unsere Zivilisation erstreckte sich über ein Zehntel der Galaxis. Ihr habt sie zerstört.« »Nein!« wimmerte Charity. »Das ist nicht wahr! Ihr habt uns angegriffen! Wir haben nur zurückgeschlagen!« »Nicht ihr«, antwortete Kias. Er kam näher, beugte sich über sie. Seine Facettenaugen wuchsen zur Größe von Monden heran, die das gesamte Universum über ihr ausfüllten. »Du!« »Nein!« wimmerte Charity. »Das ist nicht wahr! So war es nicht.« »Du allein«, beharrte Kias. »So viele Milliarden. Milliarden von Milliarden Leben. Und du allein hast sie ausgelöscht! Du ganz allein!« Er kam näher. Seine furchtbaren Mandibeln klappten auseinander, bereit, sie zu packen und ihr weiches Fleisch mit der schrecklichen, schneidenden Härte des Chitins zu zerreißen. »Nein!« kreischte Charity. Kias’ Mandibeln berührten ihre Wange, und ein furchtbarer Schmerz explodierte in ihrem Gesicht. Sie schrie auf, schlug instinktiv zurück und setzte sich mit einem Ruck auf – und die graue Unendlichkeit rings um sie herum wurde zum kaum weniger grauen Zwielicht ihres nächtlichen Apartments… Ihr Herz jagte. Sie war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und mit dem Hinübergleiten aus dem Schlaf ins Wachsein wich die Panik nicht zurück, sondern wurde für einen Moment eher schlimmer: Sie mußte mit aller Kraft dagegen ankämpfen, nicht sinnlos um sich zu schlagen und loszuschreien. Noch etwas hatte sie aus dem Alptraum herüber in die Wirklichkeit verfolgt: Ihre rechte Wange brannte noch immer wie Feuer, und die Hand, mit der sie im Traum zurückgeschlagen hatte, pochte heftig. Mit einer bewußten Willensanstrengung gelang es ihr, die Panik endgültig zurückzudrängen. Das graue Zwielicht ringsum gerann zu den vertrauten Umrissen ihres Apartments. Sie war nicht allein. Vielleicht war es kein Traum gewesen. Jemand war bei ihr im Zimmer. Sie hörte kratzende, schabende Geräusche, und so etwas wie ein Stöhnen. Vielleicht auch das Schaben messerscharfer Chitinscheren. Ein Schatten bewegte sich in der Dunkelheit vor ihr. Irgend etwas Großes, Bedrohliches begann sich vor ihr aufzurichten, Kias, der ihr aus dem Alptraum heraus in die Wirklichkeit gefolgt war, aber plötzlich zu Skudder wurde, der sich benommen neben ihrem Bett aufrichtete und die linke Hand gegen Kinn und Lippen preßte. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor. »Skudder?« fragte Charity

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