Der dritte Mond
gewaltige Anstrengung kostete und sie um ein Haar vor Schmerz aufgestöhnt hätte, hob sie die linke Hand weit genug, um auf die Uhr schauen zu können. Sie blinzelte. Was sie sah, war praktisch unmöglich. »Glaub es ruhig«, erklang Skudders Stimme in ihrem Helm. »Fünftausend Kilometer in knapp drei Sekunden. Nicht schlecht, was?« »Wird das jetzt zu einer schlechten Angewohnheit?« fragte Charity. »Immer vor mir aufzuwachen, meine ich.« »Ich bin nicht vor dir wach geworden«, erwiderte Skudder. »Ich war gar nicht bewußtlos. Aber ich hätte mir gewünscht, ich wäre es. Schau mal nach rechts.« Charity gehorchte mit einiger Mühe – und erstarrte. Der Anblick des Mars aus dieser unerwarteten Nähe hatte sie überrascht, aber er war nichts gegen das, was sich ihr auf anderen Seite des Schiffes bot. »Das ist –« »Das Zonenschiff«, sagte Skudder. »Jedenfalls hat Gurk es so genannt. Allerdings fällt es mir immer schwerer, dieses Ding Schiff zu nennen. Es kommt näher. Oder wir nähern uns ihm – das kommt ganz auf den Standpunkt an.« Charity hörte gar nicht mehr hin. Skudder brachte es fertig, drei Tage ohne Unterbrechung zu schweigen, konnte aber auch mit seinem Geplapper zu einer kolossalen Nervensäge werden. Ihr stand jetzt nicht der Sinn nach seinem fadenscheinigen Humor. Strenggenommen war in ihren Gedanken für nichts anderes Platz als für das… Ding. Zumindest in diesem Punkt stimmte sie Skudder zu: Auch ihr gelang es einfach nicht, dieses gigantische Gebilde dort draußen als Schiff zu bezeichnen. Genaugenommen fiel ihr überhaupt kein Wort ein, um dieses Etwas, das das halbe Firmament über ihnen ausfüllte, zu beschreiben. Es gab keine Vergleichsmöglichkeiten, keine Maßstäbe. Etwas Ähnliches hatte Charity nie zuvor gesehen. Das Ding war groß, und es war bizarr. Das waren auch schon alle Attribute, die ihr dazu einfielen. Es war das gleiche Gebilde, dessen Aufnahmen das Weltraumteleskop geliefert hatte. Sie alle hatten Dutzende von Bildern davon gesehen, und trotzdem war es… anders. Der Unterschied war nicht in Worte zu fassen, und doch gab es ihn – und er war so deutlich, so gravierend, daß es Charity auch nach endlosen Sekunden noch immer schwer fiel zu glauben, daß es sich tatsächlich um das gleiche Objekt handelte. Das Zonenschiff hatte sich nicht wirklich verändert: Es war noch immer eine riesige, mißgestalte Kugel mit zahllosen Auswüchsen, Rissen, Beulen, Anhängseln, Schrunden und Tentakeln, aber da war plötzlich noch mehr, als wäre im Anblick dieses Gebildes irgendeine Information enthalten, die sich weder fotografieren noch auf irgendeine andere Weise festhalten ließ. Plötzlich mußte Charity wieder daran denken, was sie gespürt hatte, kurz bevor die Stingray aus dem Universum herausgefallen war: Die Präsenz von irgend etwas Gewaltigem, Lebendigen. Das war es. »Es lebt«, murmelte sie. »Was?« machte Skudder. »Das ist kein Raumschiff«, sagte Charity. »Ich weiß nicht, warum Gurk es so genannt hat, aber es ist kein Schiff. Dieses Ding ist lebendig.« Skudder antwortete nicht, doch Charity konnte seinen Zweifel regelrecht spüren. Trotzdem war sie hundertprozentig sicher, sich nicht zu täuschen. So bizarr ihr der Gedanke selbst vorkommen mochte: Diese zwanzig Meilen durchmessende, häßliche Kugel dort draußen war kein künstliches Gebilde, sondern ein lebendiges, fühlendes Wesen. Möglicherweise sogar ein denkendes Wesen. »Bist du… sicher?« fragte Skudder nach einer Weile. Er klang noch immer zweifelnd, aber beinahe auch erschüttert. »Fühlst du es denn nicht?« »Fühlen? Was?« Charity antwortete nicht. Es war nicht das erste Mal, daß sie diese Art von Gespräch führten. Während der Besatzung durch die Moroni hatte Charity die Nähe der Außerirdischen stets gefühlt, noch bevor sie die Aliens wirklich zu Gesicht bekommen hatte, ganz anders als Skudder. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte Skudder nach einer Weile. »Ich wäre dankbar für konstruktive Vorschläge.« »Vorschläge?« »Wie wir hier wegkommen«, sagte Skudder nervös. Charity hatte nicht vor, hier wegzukommen. Der Stingray-Jäger näherte sich dem Giganten so schnell, daß ihnen vermutlich nur noch wenige Minuten blieben, doch Charity war sicher, daß jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen wäre. Und sie hätte wahrscheinlich auch dann keinen dahingehenden Versuch unternommen, wenn er Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. »Moment mal«,
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