Der dritte Zustand
Das ist meines Erachtens fast die Schlußzeile der ganzen Historie. Das ist unser aller Geschichte auf vier Zeilen reduziert. Komm, wir machen ihr Kaffee. Und für Gad und Alfred auch.«
»Geht in Ordnung«, sagte Tamar. »Du bist befreit. Ich habe den Kessel schon eingeschaltet. Sie braucht ja sowieso noch ein bißchen Zeit, bis sie aufwacht und auf die Beine kommt. Du bist heute auch davon dispensiert, hinterher reinzugehen und die Putzerei zu machen. Ich werde dort saubermachen, und du stellst nur den Sterilisator an und läßt eine Waschmaschine laufen. Wie behältst du bloß alles auswendig? Alterman und Bikini und alles? Einerseits ein zerstreuter Wirrkopf, der sich das Hemd nicht richtig zuknöpfen kann und morgens keine Rasur ohne Schramme übersteht, und andererseits jemand, der die Welt auf den Kopf stellt, um irgendein Wort für ein Kreuzworträtsel rauszukriegen. Und jedem das Leben organisiert. Guck dir doch deinen Pulli an: halb in der Hose und halb draußen. Und der Kragen ist auch halb zu sehen und halb begraben. Wie ein Baby.«
Damit verstummte sie, während ihr mitleidiges Lächeln wie vergessen auf dem offenen, breiten Gesicht stehenblieb, versank in Gedanken und fuhr schließlich traurig fort, ohne den Zusammenhang zu erklären: »Mein Vater hat sich im Hotel Metropol in Alexandria aufgehängt. Das war im Jahr sechsundvierzig. Man hat keinen Brief gefunden. Ich war damals fünfeinhalb und kann mich kaum an ihn erinnern. Ich weiß noch, daß er Zigaretten geraucht hat, die Simon RZ hießen. Und ich erinnere mich an seineArmbanduhr: gelb, vierkantig, mit Leuchtzifferblatt, auf dem die Zeiger im Dunkeln wie zwei Geisteraugen funkelten. Ich habe ein Bild, das ihn in englischer Militäruniform zeigt, aber er wirkt gar nicht wie ein Soldat. Eher schlampig. Und müde. Dabei sieht er auf diesem Bild blond aus, lächelt, mit hübschen weißen Zähnen und vielen lustigen Fältchen in den Augenwinkeln. Nicht traurig, nur müde. Mit einer Katze auf dem Arm. Vielleicht hat er auch eine unglückliche Liebe gehabt? Meine Mutter hat mit mir nie über ihn sprechen wollen. Hat immer nur gesagt: Er hat auch nicht an uns gedacht. Und dann das Thema gewechselt. Sie hatte einen Liebhaber, einen großen australischen Captain mit einem Holzarm und einem russischen Namen, Seraphim, von dem man mir mal erklärt hat, er käme von dem hebräischen Wort. Danach hatte sie einen weinerlichen Bankier, der sie nach Kanada mitgeschleppt und ihr dort den Laufpaß gegeben hat. Zum Schluß hat sie mir einen Brief aus Toronto geschrieben – auf polnisch, man hat ihn mir übersetzt, denn sie hat’s nie fertiggebracht, hebräisch schreiben zu lernen –, sie wolle nach Nes Ziona zurückkehren und ein neues Leben beginnen. Aber sie hat’s nicht mehr geschafft. Ist dort an Leberkrebs gestorben. Und mich haben sie im Internat des Arbeiterinnenrats aufgezogen. Alterman – sag mal, Fima, stimmt es, daß der zwei Frauen hat?«
»Er ist gestorben«, sagte Fima, »vor rund zwanzig Jahren.« Und wollte ihr schon ein Kurzseminar über Alterman halten, doch im selben Moment ging Dr. Etans Tür auf, ein Schwall säuerlich-bitteren Desinfektionsgeruchs quoll heraus, und dann steckte auch der Arzt seinen Kopf durch den Spalt und befahl Tamar: »Komm her, Brigitte Bardot. Komm im leichten Galopp und bring mir eine Ampulle Dolestin.«
Fima mußte also vorerst sein Referat vertagen. Er schaltete den siedenden Kessel ab und beschloß, den Ofen im Aufwachraum anzuzünden. Dann beantwortete er zwei Telefonate nacheinander – gab Frau Bergson einen Termin Ende des Monats und erklärte Gila Maimon, es sei bei ihnen nicht üblich, Untersuchungsergebnisse telefonisch durchzugeben; sie müsse also vorbeikommen und die Antwort von Dr. Wahrhaftig persönlich hören. Mit beiden sprach er irgendwie kleinlaut und unterwürfig, als habe er ihnen ein Unrecht angetan. Insgeheim stimmte er Annette Tadmor zu, die die Klischees mysteriöser Weiblichkeit – Greta Garbo, Beatrice, Marlene Dietrich, Dulcinea – verspottet hatte, aber doch im Unrecht war, als sie dann versuchte, den Mantel des Geheimnisvollen dem männlichenGeschlecht umzulegen: Wir sind allesamt an der Lüge beteiligt. Wir alle verstellen uns. Die simple Wahrheit ist doch, daß jeder von uns haargenau weiß, was Erbarmen ist und wann wir es schenken müssen, denn jeder von uns schreit schließlich nach ein wenig Erbarmen. Aber wenn der Augenblick kommt, in dem wir das Tor des Erbarmens öffnen
Weitere Kostenlose Bücher