Der dritte Zustand
Ozeans. Wir werden uns eine andere Insel suchen müssen. Ja sogar einen anderen Ozean. Überhaupt – ich und Reisighütten. Nicht mal ein Bücherbord krieg’ ich zusammengebaut. Uri Gefen bringt mir Regale an. Bitte, Tamar, steh nicht so am Fenster, mit dem Rücken zu mir und zum Zimmer. Tausendmal hab’ ich dir schon gesagt, daß ich das nicht ertragen kann. Mein Problem. Ich weiß.«
»Was hast du denn, Fima? Manchmal bist du furchtbar komisch. Ich hab’ nur die Gardine vorgezogen, weil ich keine Lust mehr habe, in diesen Regen zu starren. Und wir brauchen uns auch keine andere Insel zu suchen, Bikini paßt genau. Was ist das deiner Ansicht nach – Regierungspartei in Nicaragua?«
Fima hatte auch auf diese Frage bereits die Antwort auf der Zunge, aber im selben Moment gellte hinter Dr. Etans geschlossener Tür eine weibliche Stimme auf, ein kurzer, durchdringender Hilferuf, zutiefst überrascht und beleidigt, als entringe er sich der Kehle eines kleinen Mädchens, demfurchtbares Unrecht geschehen war. Wen ermordete man dort? Vielleicht den, der Joesers Vater oder Großvater hätte werden sollen? Fima schrak förmlich zusammen, mit aller Kraft bemüht, sich abzuriegeln, zu verschanzen, sich nicht auszumalen, was ihr die Hände in den durchsichtigen Plastikhandschuhen dort antaten auf dem gynäkologischen Stuhl, der mit weißem Wachstuch und einem ebenfalls weißen Einmallaken aus rauhem Papier abgedeckt war, daneben ein weißes Wägelchen mit einer Reihe steriler Skalpelle, Spekula, Scheren verschiedener Größen, Zangen, Spritzen, Rasiermesser, Nadel und Faden speziell zum Vernähen von menschlichem Fleisch, Pinzetten, Sauerstoffmasken und Infusionsbeutel voll Selain. Und die Weiblichkeit, die dort in ganzer Länge und Breite schutzlos ausgebreitet lag, vom Lichtstrahl der starken Lampe hinter dem Kopf des Arztes überflutet, rosarot wie eine Wunde, ähnlich vielleicht dem aufgerissenen Mund eines zahnlosen Alten, vor dunklem Blut triefend.
Während er noch vergeblich danach rang, das Bild zu löschen, nichts zu hören, nichts zu sehen und nichts zu raten, sagte Tamar ruhig: »Genug. Beruhig dich. Das ist ausgestanden dort.«
Aber Fima begann sich zu schämen. Irgendwie, auf ihm selbst unklare Weise, fühlte er sich nicht rein von Schuld. Hielt sich für mitschuldig an dem Leiden hinter der geschlossenen Tür. Sah eine Verbindung zwischen der Demütigung, die er heute morgen erst Annette, dann Nina zugefügt hatte, und der Schmach auf dem reinweißen Behandlungsstuhl. Der gewiß schon nicht mehr rein weiß, sondern mit Blut und anderen Ausscheidungen besudelt war. Sein Glied krümmte sich wie ein Dieb und verschwand tief in seiner Höhle. Die Hoden durchzuckte ein dumpfer, widerlicher Schmerz. Wenn Tamar nicht da gewesen wäre, hätte er die Hand in die Hose gesteckt, um den Druck zu mildern. Obwohl es eigentlich so besser war. Er mußte den elenden Versuch aufgeben, Zwi davon zu überzeugen, daß wir uns angeblich von der Verantwortung für die Greuel, die in unserem Namen begangen werden, lossagen können. Man muß die Schuld anerkennen. Muß sich damit abfinden, daß unser aller Leiden auf unser aller Schultern lasten. Die Unterdrückung in den Gebieten, die Schmach der in Mülltonnen stöbernden alten Menschen, der Blinde, der nachts mit seinem Stock durch das Dunkel der verlassenen Straße tappt, die Leiden autistischer Kinder in verwahrlosten Anstalten, die Abschlachtung des an Gasbrand erkrankten Hundes, Dimmis Kummer, Annettes und Ninas Demütigung, Teddys Einsamkeit, Uris ständiges Herumreisen, der chirurgischeEingriff, der hier jenseits der Wand mit Edelstahlzangen tief in der verwundeten Scham vorgenommen wird – alles auf unser aller Schultern. Vergebens die Träume von der Flucht auf die Mururoa- oder Galapagosinseln. Auch das von einer radioaktiven Wolke verseuchte Bikini lastet auf unser aller Schultern. Einen Moment verharrten seine Gedanken bei den zwei Bedeutungen von Scham und der Ähnlichkeit von Zange und Zwang, doch sofort tadelte er sich wegen dieser Wortspiele, seiner Sprachschnörkel, die kein weniger verächtliches Ausweichmanöver waren als das Wort »Preis«, das der Verteidigungsminister benutzt hatte, statt Tod zu sagen.
»Bei Alterman 20 gibt es so einen Vers«, sagte er zu Tamar, »in den Ägyptischen Plageliedern: ›Da sammelte sich der Pöbel der Gegend, / den Schandkragen in der Hand, / ihn Ministern und König fein anzulegen / und loszureißen vom eigenen Hals.‹
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