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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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würde ihn an Guilietta Masina erinnern. Nach zweieinhalb Stunden bin ich wieder heimgefahren – zufällig war es sogar das gleiche Taxi, mit einem Bildchen von Grace, der Fürstin von Monaco, über dem Kopf des Fahrers –, und es war schon alles vorbei. Ich weiß noch, daß ich Läden und Vorhänge zugezogen, mich hingelegt und im Radio erst Schuberts Impromptu und dann einen Vortrag über Tibet und den Dalai Lama gehört habe und bis zum Abend nicht aufgestanden bin, und abends hat es wieder angefangen zu regnen. Du bist mit Zwi früh morgens zu einem Tagesseminar über Geschichte in die Tel Aviver Universität gefahren. Stimmt, du hast angeboten, darauf zu verzichten und mit mir zu kommen. Und es stimmt auch, daß ich gesagt habe, wieso denn, lohnt nicht, das ist doch kaum anders, als wenn man einen Weisheitszahn gezogen bekommt. Und am Abend bist du strahlend vor Begeisterung wiedergekommen, weil es dir gelungen war, Professor Talmon bei einem kleinen Widerspruch zu ertappen. Wir haben es umgebracht und geschwiegen. Bis heute möchte ich nicht wissen, was sie damit machen. Kleiner als ein Küken. Werfen sie’s in die Toilette und spülen nach? Wir beide haben es ermordet. Nur daß du nicht hören wolltest, wann, wo und wie. Du wolltest von mir nur hören, daß alles schon fertig und vorbei ist. Und vor allem wolltest du mir erzählen, wie du den großen Talmon dazu gebracht hast, verwirrt auf dem Podium zu stehen wie ein Student im ersten Semester, der einen Fehler bei der mündlichen Prüfung gemachthat. Und abends bist du dann wieder zu Zwicka gelaufen, weil ihr im Bus auf der Rückfahrt nach Jerusalem eure Debatte über die Folgen der Lavon-Affäre noch nicht beendet hattet. Jetzt hätte er ein Mann von sechsundzwanzig Jahren sein können. Vielleicht selber schon Vater von ein, zwei Kindern, das erste womöglich fast in Dimmis Alter. Und wir beide könnten in die Stadt gehen, um ein Aquarium mit Zierfischen für die Enkel zu kaufen. Wohin, meinst du, fließen Jerusalems Abwässer letzten Endes? Wohl durch den Sorek ins Mittelmeer? Das Meer reicht bis Griechenland, und dort könnte ihn beispielsweise die Tochter des Königs von Ithaka aus den Wellen gehoben haben. Nun sitzt der gelockte Jüngling in Mondnächten am Strand von Ithaka und schlägt die Harfe. Mir scheint, Talmon ist schon vor einigen Jahren gestorben? Oder war es Prawer? Und Guilietta Masina ist wohl auch schon seit einiger Zeit tot? Ich mach’ noch Kaffee. Den Friseur habe ich sowieso verpaßt. Dir würde es auch nicht schaden, dir mal die Haare schneiden zu lassen. Aber eigentlich auch nichts nützen. Kannst du dich wenigstens noch an Schoschana Damari erinnern? ›Ein Stern glüht in der Nacht, und der Schakal hält heulend Wacht?‹ Die ist auch schon ziemlich in Vergessenheit geraten.«
    Fima schloß die Augen. Duckte sich, nicht wie jemand, der sich vor einer Ohrfeige fürchtet, sondern wie einer, der sie bis in die Nervenspitzen herbeisehnt. Als bücke sich da weder Jael noch Jaels Mutter, sondern seine eigene Mutter über ihn und fordere ihn auf, ihr augenblicklich die blaue Mütze wiederzugeben, die er versteckt halte. Aber woher wußte sie, daß er sie versteckt hatte? Oder daß da ein Sohn gewesen war? Es hätte doch auch eine Tochter sein können? Eine kleine Jael mit langem weichen Haar und dem Gesicht von Guilietta Masina? Er legte die Arme auf den Tisch und barg, ohne die Augen zu öffnen, den Kopf in beiden Händen. Fast greifbar klang ihm Professor Talmons näselnde Schulmeisterstimme in den Ohren, die da feststellte, Karl Marx’ Auffassung der menschlichen Natur sei dogmatisch naiv, um nicht zu sagen primitiv, und jedenfalls eindimensional gewesen. Insgeheim erwiderte Fima auf diese Behauptung mit der Frage von Jaels altem Vater: »In welcher Hinsicht?«
    Sosehr er auch darüber nachgrübelte, er fand keine Antwort. Und jenseits der Wand, in der Nachbarwohnung, stimmte eine junge Frau ein vergessenes Lied an, das vor vielen Jahren in aller Munde gewesen war, das Lied von einem Mann namens Johnny, wie es nie einen zweiten gab, und sie nannten ihn Johnny Guitar. Dünn, kindlich, fast lächerlich erschienihm die Melodie aus dem Mund der Frau jenseits der Küchenwand. Sie sang nicht gut. Fima fiel plötzlich ein Beischlaf mit Jael vor fast einem halben Leben ein, ein nachmittägliches Schäferstündchen in einer kleinen Pension auf dem Karmel, wohin er sie auf Fahrten zu Seminaren im Haifaer Technikum begleitete. Er schlug ihr

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