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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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ja sogar wunderbar erschien ihm dieser Zustand: Obwohl er nicht mit seiner Frau geschlafen hatte, verspürte er in seinem Körper keinerlei Mangel, sondern im Gegenteil Fröhlichkeit, Hochstimmung, Befriedigung, als habe auf mystische Weise doch eine tiefe, präzise Verschmelzung zwischen ihnen stattgefunden. Und als habe er bei dieser Verschmelzung endlich seinen einzigen Sohn mit ihr gezeugt.
    Aber in welcher Hinsicht?
    Die Frage erschien ihm überflüssig. In uneinsichtiger Hinsicht. Und wenn schon.
    Als er die Herzl-Straße erreichte, erinnerte ihn der feine Regen daran, daß er seine Schirmmütze bei Jael auf der Küchentischecke vergessen hatte. Was er nicht bedauerte, da er wußte, daß er zurückkehren würde. Er mußte noch ihr und Dimmi – und warum nicht auch Ted – das Geheimnis des dritten Zustands erklären. Allerdings nicht jetzt. Nicht heute. Es brannte ja nicht. Selbst als ihm Joeser und die übrigen vernünftigen, besonnenen Menschen, die in hundert Jahren an unserer Stelle in Jerusalem leben werden, in den Sinn kamen, regte sich diesmal keine Trauer bei ihm. Im Gegenteil: eher ein verschmitztes inneres Grinsen. Was ist denn. Was brennt. Sollen sie warten. Sollen sie geduldig abwarten, bis sie an der Reihe sind. Wir sind hier entschieden noch nicht mit unserer Sache fertig. Eine ermüdende, miese Angelegenheit, das läßt sich nicht leugnen, aber so oder anders haben wir hier noch nicht unser letztes Wort gesprochen.
    Einige Minuten später kletterte er in den ersten Bus, der vor ihm an der Haltestelle hielt, ohne auf Linie und Fahrtrichtung zu achten. Setzte sich hinter den Fahrer, summte weiter unbekümmert falsch das Lied von Johnny Guitar vor sich hin. Und sah keinen Grund, den Autobus vor der Endstation zu verlassen, die zufällig in der Schmuel-Hanavi-Straße lag. Trotz Kälte und Wind fühlte Fima sich bestens.

29.
Vor Schabbatbeginn
    Vor lauter Freude verspürte er keinen Hunger, obwohl er außer den in Jaels Küche stibitzten Keksen seit morgens nicht gegessen hatte. Als er aus dem Bus stieg, merkte er, daß es nicht mehr regnete. Zwischen schmuddeligen Wolkenfetzen schimmerten blaue Inseln. Irgendwie schien es, als verharrten die Wolken auf der Stelle, während die himmelblauen Inseln nach Westen segelten. Und er hatte das Gefühl, dieses Azur meine ihn und rufe ihn mitzukommen.
    Fima begann die Jecheskel-Straße hinaufzugehen. Die beiden ersten Zeilen des Liedes von Johnny Guitar schwangen weiter in der Brust. Aber wie lautete die Fortsetzung? Wohin auf der Welt hatte es jenen Johnny am Ende verschlagen? Wo spielte er heute?
    Schabbatabendduft durchdrang die Luft des Bucharenviertels, obwohl es noch früh war, halb eins ungefähr. Vergebens bemühte sich Fima, die Zusammensetzung dieses intensiven Geruchs zu analysieren, der ihn an seine Kindheit erinnerte, an die leichte Erregung, die ihn und Jerusalem mit dem Nahen des Schabbat erfaßte, ja die Welt bei all dem Waschen, Putzen und Kochen gelegentlich schon von Donnerstag abend an zu erfüllen begann. Die Hausgehilfin kochte gefüllte Hühnerhälse, mit Nadel und Faden vernäht. Seine Mutter bereitete klebrig süßes Pflaumenkompott. Und Zimmes – süß gekochte Karotten. Und gefillte Fisch und Kreplach oder Strudel. Oder Rosinenkugel. Dazu alle möglichen Marmeladen und Konfitüren, die auf russisch Warenje hießen. Ganz konkret kehrten Fima auch Geruch und Aussehen des weinroten Borschtsch ins Gedächtnis zurück, jener sämigen Rote-Bete-Suppe, auf der Fettaugen wie Goldstücke schwammen. Als Kind hatte er diese Goldmünzen mit dem Löffel herausgefischt.
    Und jeden Freitag holte seine Mutter ihn Punkt Mittag am Schultor ab – den blonden Zopf zum Kranz um den Kopf gewunden und das Gold im Nacken durch einen braunen Schildpattkamm gehalten. Dann gingen sie zu zweit die letzten Einkäufe auf dem Machane-Jehuda-Markt tätigen, er den Ranzen auf dem Rücken, sie den Flechtkorb in der Hand, an deren einem Finger ein Saphirring funkelte. Die Düfte des Markts, salzige, bittere, saure sephardische Wohlgerüche, versetzten sie beide in kindlichen Frohsinn. Als hätten sie sich insgeheim gegen die zähe aschkenasische Süße der hausgemachten Nudelaufläufe und Karottengerichte, der gefüllten Fische, des Kompotts und der diversen klebrigen Konfitüren verschworen.
    Und tatsächlich behagten seinem Vater ihre freitagmittäglichen Marktausflüge nicht: Er nörgelte verächtlich, das Kind solle lieber Hausaufgaben machen oder seinen

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