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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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»ich hab’ das gelesen. Wir haben doch vorgestern darüber gesprochen. Komm zur Sache. Erklär mir, wo dein Problem steckt.«
    »Sofort«, sagte Fima, »gleich komm’ ich auf den Hauptpunkt. Erklär mir bitte nur eins, Zwicka: Warum achtet dieser Grass, wenn er von den Nazis spricht, so peinlich darauf, das Wort ›sie‹ zu verwenden, während du und ich all die Jahre über, wann immer wir über die Besatzung, das moralische Abgleiten, die Unterdrückung in den Gebieten, ja sogar über den Libanonkrieg, ja selbst über die Ausschreitungen der Siedler schreiben, ausnahmslos das Wort ›wir‹ benutzen? Dabei hat dieser Grass doch selber Wehrmachtsuniform getragen! Sowohl er als auch der zweite da, Heinrich Böll. Hat das Hakenkreuz am Rock getragen und sicher auch den ganzen Tag den Arm hochgerissen und wie alle Heil Hitler gebrüllt. Und der nennt sie ›sie‹! Während ich, der ich keinen Fuß in den Libanon gesetzt und nie in den Gebieten gedient habe, so daß meine Hände gewiß weniger dreckig als die von Günter Grass sind, grundsätzlich ›wir‹ schreibe und sage. ›Wir haben uns vergangen.‹ Oder sogar, ›das unschuldige Blut, das wir vergossen haben‹. Was ist dieses ›wir‹? So ein Überbleibsel aus dem Unabhängigkeitskrieg? Stets zu Befehl sind wir? Wir, wir, die Palmach? Wieso denn ›wir‹? Wer sind hier ›wir‹? Ich und der Raw Levinger 12 ? Du und Kahane 13 ? Was soll das eigentlich? Hast du mal darüber nachgedacht, Professor? Vielleicht wird’s Zeit, daß du und ich und wir alle es wie Grass und Böll handhaben. Damit anfangen, stets willentlich, wissentlich und betont das Wort ›sie‹ zu verwenden? Was meinst du?«
    »Schau«, sagte Zwi Kropotkin müde, »trotzdem ist es bei denen schon vorüber, während es bei uns weiter und weiter geht, und deshalb –«
    »Bist du verrückt geworden?!« fiel ihm Fima wutschnaubend ins Wort. »Weißt du überhaupt, was du da sagst? Was heißt, bei denen ist es vorüber, und bei uns geht es weiter? Was zum Teufel umfaßt denn bei dir dieses ›es‹? Was genau ist nach deiner Ansicht in Berlin vorüber und geht in Jerusalem angeblich weiter? Bist du noch normal, Professor? Auf diese Weise stellst du uns ja auf eine Ebene mit ihnen! Ja schlimmer noch: aus deinenWorten geht sogar hervor, daß die Deutschen uns derzeit moralisch überlegen sind, weil sie schon aufgehört haben, während wir Schurken weitermachen. Wer bist du denn, George Steiner? Radio Damaskus? Das ist doch genau der dreckige Vergleich, den sogar dieser Grass, Veteran der Wehrmacht, zurückweist und als Demagogie bezeichnet!«
    Fimas Wut war verpufft. An ihre Stelle trat Kummer. Und er sagte in einem Ton, in dem man zu einem Kind spricht, das sich mit einem Schraubenzieher verletzt hat, weil es sämtliche Warnungen der Erwachsenen stur in den Wind geschlagen hat: »Da siehst du’s selber, Zwicka, wie leicht man in die Grube fallen kann. Schau bloß, auf welch dünnem Seil wir balancieren müssen.«
    »Beruhig’ dich, Fima«, bat Zwi Kropotkin, obwohl Fima sich bereits abgeregt hatte, »es ist noch keine acht Uhr. Was fällst du denn über mich her. Schau einen Abend bei uns rein, dann setzen wir uns zusammen und klären das Thema in Ruhe. Ich hab’ französischen Cognac, Napoleon; Schulas Schwester ist zurückgekommen und hat ihn mitgebracht. Aber nicht diese Woche. Diese Woche ist Semesterschluß, und ich bin mit Arbeit eingedeckt. Sie machen mich zum Dekan. Vielleicht kommst du nächste Woche? Du scheinst mir nicht gut drauf zu sein, Fima, und auch Nina hat zu Schula gesagt, du wärst womöglich wieder ein bißchen deprimiert?«
    »Na was macht’s, wenn’s, verdammt noch mal, vor acht Uhr morgens ist? Gilt unsere Verantwortung für die Sprache etwa bloß während der Bürostunden? Nur von acht bis vier, abzüglich der Mittagspause? Allein werktags? Hier geht’s um bitteren Ernst. Laß mal einen Moment Schula und Nina nebst eurem Cognac. Ihr habt euch eine schöne Zeit für Cognac ausgesucht. Ich bin bloß darüber deprimiert, daß ihr mir nicht deprimiert genug ausseht angesichts dessen, was da vorgeht. Hast du heute morgen Zeitung gelesen? Ich möchte, daß du das, was ich gesagt habe, als Antrag zur Tagesordnung wertest. Im Rahmen des Schutzes der Sprache vor der Verunreinigung, die man ihr bei uns zumutet. Ich schlage vor, wir gehen von heute an, zumindest für alles, was die Greueltaten in den Gebieten betrifft, einfach völlig davon ab, das Wort ›wir‹ zu

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