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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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    »Fima«, sagte Zwi, »gib mal einen Moment Ruhe. Schaff ein bißchen Ordnung bei dir: Was heißt das erste und was das zweite Wir? Du verwickelst dich in Widersprüche, mein Freund. Aber lassen wir das jetzt. Wir sprechen nächste Woche darüber. Persönlich. Wir werden sowieso nichtzwischen Tür und Angel, am Telefon, damit fertig. Und ich muß mich auch beeilen.«
    Fima ließ nicht locker: »Erinnerst du dich an die berühmte Zeile aus dem Lied von Amir Gilboa 14 ? ›Plötzlich steht ein Mensch morgens auf, fühlt, daß er Volk ist, und beginnt zu gehen‹? Das ist genau das Absurdum, von dem ich rede. Erstens, Professor, die Wahrheit, Hand aufs Herz: Ist es dir jemals passiert, daß du morgens aufgestanden bist und plötzlich gefühlt hast, daß du Volk bist? Höchstens doch nachmittags. Wer ist überhaupt fähig, morgens aufzustehen und zu fühlen, daß er Volk ist? Und dann auch noch loszulaufen? Vielleicht Ge’ula Cohen. Wer steht denn morgens auf und fühlt sich nicht beschissen?«
    Kropotkin prustete los. Was Fima zu neuem Ansturm ermunterte: »Aber hör mal zu. Im Ernst. Es wird Zeit, daß wir aufhören, uns als Volk zu fühlen. Daß wir aufhören loszugehen. Wir sind fertig mit diesem Scheiß: ›Eine Stimme rief mich, und ich ging‹, ›wohin man uns schickt – dorthin steht unser Sinn‹ – das sind doch echt faschistoide Motive. Du bist nicht Volk, und ich bin nicht Volk und sonst auch keiner. Weder morgens noch abends. Übrigens sind wir wirklich kein Volk. Höchstens eine Art Stamm –«
    »Schon wieder ›wir‹«, spöttelte Zwi, »du bist ein bißchen ins Schleudern geraten, Fima. Entscheid dich endlich: Sind wir nun wir, oder sind wir nicht wir? Im Hause des Gehenkten faßt man das Tau nicht an beiden Enden. Egal. Entschuldige bitte, aber ich muß jetzt wirklich auflegen und losgehen. Übrigens hab’ ich gehört, daß Uri am Wochenende zurückkommt. Vielleicht planen wir was für Samstagabend. Auf Wiederhören.«
    »Gewiß sind wir kein Volk«, beharrte Fima, taub und glühend vor Rechthaberei, »wir sind ein primitiver Stamm. Dreck, das sind wir. Aber diese Deutschen – und die Franzosen und Briten desgleichen – sollen uns mal keine Moral predigen. Im Vergleich zu denen sind wir Heilige. Hast du heute morgen schon die Zeitung gesehen? Was Schamir gestern in Natania gefaselt hat? Und was sie dem arabischen Alten am Strand von Aschdod angetan haben?«
    Als Zwi sich entschuldigte und einhängte, posaunte Fima weiter in das apathische, satte Summen, das aus dem Hörer drang: »Und außerdem sind wir erledigt.«
    Damit meinte er in diesem Moment sowohl den Staat Israel als auch die Linke nebst sich und seinem Freund. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, sann er jedoch ein wenig darüber nach und nahm es zurück: Wir dürfen nicht in Hysterie verfallen. Beinah hätte er erneut Zwi angerufen, um ihn vor der Verzweiflung und Hysterie zu warnen, die jetzt auf uns alle lauern, tief beschämt über die grobe Art, in der er seinen Jugendfreund beleidigt hatte, diesen anständigen, klugen Gelehrten, eine der letzten Stimmen, die sich noch ihre Normalität bewahrt hatten. Allerdings verspürte er auch leise Trauer bei dem Gedanken, daß dieser mittelmäßige Wissenschaftler nun als Dekan den Platz seiner großen Vorgänger einnehmen würde, denen er doch nicht das Wasser reichen konnte. Trotzdem fiel ihm plötzlich ein, wie vor eineinhalb Jahren, als man ihm im Hadassa-Krankenhaus den Blinddarm herausgenommen hatte, Zwicka seinen Bruder, den Arzt, mobilisiert hatte, dazu sich selbst nebst Schula, und daß die beiden fast nicht von seinem Bett gewichen waren. Dann, als er aus dem Krankenhaus entlassen war, hatte Zwi gemeinsam mit den Gefens und mit Teddy Tag und Nacht einen Schichtdienst eingerichtet, um ihn, der hohes Fieber bekam, sich wie ein verwöhntes Kleinkind aufführte und allen unaufhörlich zusetzte, daheim zu pflegen. Und jetzt hast du ihn nicht nur verletzt, sondern auch noch mitten beim Rasieren gestört und womöglich dafür gesorgt, daß er zu spät zu seiner Vorlesung kommt, und das ausgerechnet am Vorabend seiner Ernennung zum Dekan. Noch heute abend würde er ihn wieder anrufen, nahm er sich vor. Würde ihn um Verzeihung bitten und seine Haltung doch noch einmal zu erklären versuchen. Nur würde er es diesmal unaufdringlich, mit kühler, geschliffener Logik tun. Und dabei auch nicht vergessen, Schula einen Kuß zu schicken.
    Fima eilte in die Küche, weil er meinte,

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