Der Dritte Zwilling.
geparkt. Es war ein heißer Tag.
Jeannie trug ein ärmelloses Kleid, darüber eine Jacke, um seriöser und kompetenter zu erscheinen. Die Klimaanlage des Ford stöhnte und blies lauwarme Luft ins Wageninnere. Jeannie zog ihre Nylonstrümpfe aus und hängte ihre Jacke an den Kleiderhaken über der Rückbank.
Jeannie fuhr. Als die Frauen auf den Highway einbogen, der in Richtung Gefängnis führte, sagte Lisa: »Es macht mir ganz schön zu schaffen, daß du glaubst, ich hätte den Falschen herausgepickt.«
»Mir auch«, erwiderte Jeannie. »Aber ich weiß, du hättest es nicht getan, wenn du dir nicht ganz sicher gewesen wärst.«
»Wie kannst du sicher sein, daß ich mich geirrt habe?«
»Ich bin mir über gar nichts sicher. Aber ich halte sehr viel von Steve Logan. Ich habe das Gefühl, daß er es nicht gewesen ist.«
»Ich finde, du solltest Ungewisse Gefühle gegen die feste Gewißheit einer Augenzeugin abwägen und der Augenzeugin glauben.«
»Ich weiß. Aber kennst du die Krimireihe Alfred Hitchcock Pre sents? Ist noch in Schwarzweiß gedreht. Manchmal werden im Kabelfernsehen alte Wiederholungen gezeigt.«
»Ich weiß, was du meinst. Die Folge, in der vier Zeugen einen Autounfall beobachten, und jeder hat etwas anderes gesehen.«
»Bist du jetzt beleidigt?«
Lisa seufzte. »Sollte ich eigentlich sein, aber ich habe dich viel zu gern, als daß ich dir deshalb böse sein könnte.«
Jeannie streckte den Arm aus und drückte Lisas Hand. »Danke.«
Längere Zeit schwiegen beide; dann sagte Lisa: »Ich kann es nicht ausstehen, wenn die Leute mich für schwach halten.«
Jeannie runzelte die Stirn. »Ich halte dich nicht für schwach.«
»Aber die meisten anderen. Weil ich so klein bin, und wegen meiner süßen kleinen Nase und der Sommersprossen.«
»Na ja, wie ein Flintenweib siehst du gerade nicht aus, soviel steht fest.«
»Ich bin aber nicht schwach. Ich lebe allein, ich kann auf mich selbst aufpassen, ich habe einen guten Job, und niemand kommt mir zu nahe. Jedenfalls hab’ ich mich so eingeschätzt - bis letzten Sonntag. Jetzt habe ich das Gefühl, die Leute haben recht: Ich bin doch schwach. Ich kann ganz und gar nicht auf mich selbst aufpassen! Jeder Psychopath, der durch die Straßen schleicht, kann mich schnappen und mir ein Messer an die Kehle drücken und mit meinem Körper anstellen, was er will, und mir sein Sperma reinpumpen.«
Jeannie drehte den Kopf zur Seite und schaute die Freundin an. Lisas Gesicht war vor Erregung blaß geworden. Jeannie hoffte, daß es Lisa guttat, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.
»Du bist taft«, sagte Lisa.
»Und deswegen habe ich die gleichen Probleme wie du - nur genau andersherum. Die Leute halten mich für unverletzlich. Weil ich gut eins achtzig groß bin und einen durchstochenen Nasenflügel und ein schlechtes Benehmen habe, glauben die Menschen, sie könnten mir nicht weh tun.«
»Du hast kein schlechtes Benehmen.«
»Ist mir offenbar entgangen.«
»Wer hält dich denn für unverletzlich? Ich nicht.«
»Die Frau, die das Bella Vista leitet - das Pflegeheim, indem meine Mom ist. Die Ziege hat mir ins Gesicht gesagt: ›Ihre Mutter wird die fünfundsechzig nicht erleben.« Genau diese Worte. ›Ich weiß, daß es Ihnen lieber ist, wenn ich offen zu Ihnen bin‹, hat sie gesagt. Am liebsten hätte ich ihr geantwortet, daß ich durchaus zu Gefühlen fähig bin, auch wenn ich einen Ring in der Nase trage.«
»Mish Delaware hat mir gesagt, daß es Vergewaltigern gar nicht um Sex geht. Es bereitet ihnen Lust, Macht über eine Frau zu besitzen, sie zu beherrschen, ihr Angst einzujagen und ihr weh zu tun. Der Vergewaltiger sucht sich ein Opfer, von dem er sich verspricht, daß er es leicht verängstigen kann.«
»Welche Frau wäre bei einem Vergewaltiger nicht verängstigt?«
»Aber der Kerl hat nicht dich herausgefischt. Wahrscheinlich hättest du ihm eins verpaßt.«
»Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit.«
»Du hättest dich jedenfalls heftiger gewehrt als ich. Du wärst kein hilfloses, zitterndes Bündel gewesen. Deshalb hat der Kerl dich nicht ausgesucht.«
Jeannie erkannte, in welche Richtung ihr Gespräch führte. »Das mag ja stimmen, Lisa, aber das bedeutet noch lange nicht, daß du irgendeine Mitschuld an der Vergewaltigung hast – kein noch so kleines bißchen. Was dir passiert ist, hätte genausogut jeder anderen passieren können.«
»Da hast du recht«, sagte Lisa.
Zehn Meilen hinter der Stadtgrenze bogen sie an einem
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